Konservatismus - © Foto: iStock / Nicholas Ahone

Was heißt hier "konservativ"?

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Warum eine Gesellschaft ohne Traditionen ein Vakuum spürt - und konservative Denkfiguren diese Leerstelle füllen könnten. Ein Gastkommentar als Auftakt einer Grundsatzdebatte.

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Warum eine Gesellschaft ohne Traditionen ein Vakuum spürt - und konservative Denkfiguren diese Leerstelle füllen könnten. Ein Gastkommentar als Auftakt einer Grundsatzdebatte.

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Soll ich in den Chor der Politikverdrossenen einstimmen und Politik als verdrießliches Geschäft, das an die niederen Instinkte appelliert, denunzieren? Diese Haltung ist gegenwärtig zwar Common Sense, hat aber einen Fehler: Diese Kritik beschränkt sich auf das Beschreiben von Defiziten. Politik wird dabei als machtorientierte Tätigkeit und nicht länger als Ordnungswerkzeug der transzendentalen Sorge um das Ganze begriffen.

Genau diesen Anspruch hatte aber das antike Politikverständnis: Ein ganzheitlicher Politikbegriff soll ein gutes Leben im Falschen führen und fordert von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern sowie von Politiker(inne)n gleichermaßen vollen Einsatz für den Staat und das Gemeinwohl. Wenn Platon und Aristoteles in ihren Staatsentwürfen als Ziel das edle Leben sehen, mag das von den Krisen der Gegenwart erschöpften Ohren zwar wie ein Echo aus längst vergangenen Epochen klingen, könnte aber gerade jetzt auch als überfällige Aufforderung zu Mäßigung, Läuterung und Umkehr dienen. Idealismus und der Glaube an das Gute als politische Tugenden sind nicht notwendigerweise als naiv zu bewerten. Nicht jede politische Handlung sollte auf machttaktische oder materielle Kategorien und Ursachen zurückgeführt werden. Eine Politik, die den Menschen in seiner ontologischen Gesamtheit ernst nimmt, braucht die Vorstellung einer höheren Sphäre.

Die aktuell ausgerufene Zeitenwende bietet daher Gelegenheit, Anker- und Angelpunkte des Politischen zu definieren und zu zeigen, wo der kleinste gemeinsame Nenner unseres Gemeinwesens liegt und in diesem Prozess das Gemeinsame über das Trennende unterschiedlicher Weltanschauungen zu stellen.

Verhältnismäßigkeit, Maß und Mitte

Mit seiner angemessen Äquidistanz zur Dynamik gesellschaftlichen Wandels böte der Konservatismus mit seinen ordnungspolitischen Grundsätzen ein reichhaltiges Instrumentarium zur Wiederbelegung einer lebendigen Demokratie. Dem oder der Konservativen geht es dabei um die Bewahrung der wahren geistigen Grundlagen für das Zusammenleben der Menschen und weniger um die Beibehaltung des Status quo. Der historische Gegenspieler von Liberalismus und Sozialismus hat dabei gewichtige, aber meist vergessene Argumente auf seiner Seite, weil er als einzige der drei modernen politischen Strömungen die Sehnsucht nach dem Gleichgewichtszustand fordert, die der Konservatismus der Schneller-Höher-Weiter-Mentalität des Liberalismus und der manischen Suche nach dem neuen Menschen entgegenhält. Dabei argumentieren Konservative oft ambivalent: Einerseits argumentieren sie mit dem Hochhalten der Ideale des christlichen Mittelalters und der griechischen Antike rückwärtsgewandt, andererseits sind sie aber auch fortschrittlich ausgerichtet auf eine Zukunft, in der die christlichen und humanistischen Werte gegen den Utilitarismus der Aufklärung wieder Gehör finden. Das Gerede vom Ernstfall, weil das ökologische und ökonomische Fundament bedroht ist, das Geschäft der Kulturkritik und Aufrufe zu Umkehr sind keine Erfindung der Zivilgesellschaft, sondern ein Signum der konservativen Weltanschauung, die Sinn in der Sinnkrise permanent neu finden muss.

Sicherheit, Planbarkeit und Ordnung

Als Typus bleibt der oder die Konservative stets antirevolutionär. Allen Verlockungen und Heilsversprechen, wie die Welt auszusehen hat, erteilt man als Hüter des Kanons eine Absage. Zentrale Themen des an Harmonie orientierten konservativen Politikverständnisses sind die Bewahrung der Ordnung, die Herstellung von Sicherheit und das Hochhalten humanistischer Bildungsideale. Sozial wie ökonomisch folgen Konservative dem aristotelischen Leitbild, in dem auf die Unterschiedlichkeit der Menschen als Bürger hingewiesen wird, wonach jedem das Seine zusteht und der Bürger bei Wahlen immer eine Alternative haben muss. Die Menschen sind zwar rechtlich formal gleich, jedoch sind sie in ihren Talenten und Begabungen ungleich. Diese natürliche Ungleichheit sollte der Staat nicht durch willkürliche Gesetze verleugnen. Denn der Staat ist nicht der Erzieher und Wohltäter der Menschheit. Ganz im Gegenteil sollte sich eine Republik nicht in die Lebenswelt des einzelnen Bürgers einmischen. Als Leitlinie gilt: Jeder Mensch ist durch sich selbst und nicht durch den Staat befähigt. Eine Veredelung, Selbstoptimierung und Transformation der menschlichen Natur wird grundsätzlich abgelehnt.

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