Werbung
Werbung
Werbung

Religiös sein bedeutet, nicht nur für Gott oder irgendeine Transzendenz, sondern auch für die Welt und die Mitmenschen besonders aufmerksam zu werden. Die einen entdecken religiöse Spuren im Alltag auch fernab der Religionsinstitutionen. Die andern orten unseliges Ausbreiten von Religion bei politischen Gewalttaten: "Religion" schwirrt unversehens und weltweit durch den Diskurs. Die furche hat den katholischen Theologen Rainer Bucher, seinen evangelischen Kollegen Ulrich Körtner sowie die Religionspädagogin und Jugendforscherin Ilse Kögler eingeladen, diesen Fragen nachzugehen, und stellt exemplarische Bücher (von F. W. Graf und Gianni Vattimo) zum Thema vor. Redaktion: Otto Friedrich

Die Definitionen von Religion sind Legion. Eine allgemein anerkannte Begriffsbestimmung gibt es jedoch bis heute nicht. Die Etymologie ist unsicher. Cicero leitet das Wort vom Verb "relegere" ab und versteht unter Religion den Dienst der den Göttern entgegenzubringenden Verehrung. Augustin führt den Begriff auf "religere" zurück: Religion sei demnach die Rückbindung des Menschen an Gott.

Begriffe wie "Religion" und "religiös" werden sowohl beschreibend, als auch normativ verwendet. Der Unterschied zwischen einem deskriptiven und einem normativen Religionsbegriff macht die Differenz zwischen Theologie und moderner Religionswissenschaft aus. Allerdings wäre es ein Missverständnis, zu meinen, die Religionswissenschaft sei wissenschaftlich-objektiv, während christliche oder sonstige Theologie eine subjektive bzw. unwissenschaftliche Sichtweise von Religion vertrete. Denn jede Beschreibung eines Phänomens setzt ein bestimmtes Verständnis der fraglichen Sache voraus.

Eine gewagte Definition

Überhaupt steht man als Beobachter vor dem merkwürdigen Umstand, dass ausgerechnet die moderne Religionswissenschaft den Religionsbegriff überhaupt in Frage stellt. Religionswissenschaft, so kann man überspitzt sagen, redet heute von allem Möglichen, nur nicht von Religion. Das ist durchaus verständlich. Es gibt nicht die Religion, sondern eine Vielzahl von Religionen. Religiöse Phänomene sind aber so vielfältig und zum Teil widersprüchlich, dass es mehr als gewagt erscheint, sie alle unter einen Oberbegriff zu stellen. Versuche, das allgemeine Wesen von Religion zu bestimmen, sei es philosophisch, theologisch oder religionsphänomenologisch, sind in der Religionswissenschaft weitgehend aus der Mode gekommen.

Zu Recht weisen Religionswissenschaftler auf den christlichen und eurozentrischen Hintergrund des Religionsbegriffs hin, der in vielen Kulturräumen keine Entsprechung habe. Die Religionswissenschaftlerin Karénina Kollmar-Paulenz wendet allerdings ein, dass es nicht nur im Christentum und im vom ihm geprägten Europa, sondern etwa auch in tibetisch- buddhistischen dogmatischen und polemischen Abhandlungen einen Begriff gibt, mit dessen Hilfe fremde religiöse Systeme verglichen und beschrieben werden. Es wäre daher nicht sinnvoll, wollte die Religionswissenschaft auf den Religionsbegriff überhaupt verzichten.

Zwar stammt der Begriff "Religio" aus der vorchristlichen römischen Kultur. Seine Blüte erlebte der zunächst zögernd vom Christentum aufgegriffene Religionsbegriff seit der Neuzeit. "Religio" war über lange Zeit ein normativer Begriff der Theologie, wobei das Christentum als Inbegriff aller wahren Religion galt. Später wanderte der Terminus in die Religionswissenschaft aus.

Heute versteht sich die Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft - als eine empirischbeschreibende, aber nicht als eine normativ-urteilende Wissenschaft. Jacques Waardenburg fasst Religionen als "Zeichensprachen" auf, und der Anthropologe Cliffort Geertz interpretiert Religionen als komplexe Systeme von Zeichen und Symbolen. Religiös sind Zeichen und Symbole freilich nicht an sich, sondern immer nur in einem bestimmten Kontext oder "Sprachspiel" (Wittgenstein). Was konkret als religiös zu gelten hat, hängt also immer vom Verständnis derer ab, die eine Verhaltensweise für religiös erklären. Das können zum einen die religiösen Praktikanten, das können aber auch Beobachter sein.

Fußball: (k)eine Religion?

Teilnehmer- und BeobachterPerspektive müssen sich selbstverständlich nicht decken. So mag ein Religionssoziologe der Ansicht sein, dass Fußball eine moderne Form von Religion sei, während der Fan eines Bundesligavereins mit einer solchen Einordnung gar nicht einverstanden sein muss, weil er vielleicht das Gebet, den Besuch der katholischen Sonntagsmesse und vielleicht auch die Astrologie, aber keineswegs ein Fußballmatch als religiös empfindet. Simmering gegen Kapfenberg: das ist für ihn vielleicht Brutalität, aber nicht Religion.

Was jemand unter Religion, unter Religiosität oder einem religiösen Verhalten versteht, hängt immer auch von den damit verbundenen Unterscheidungen ab. Gebräuchlich ist etwa die Unterscheidung zwischen religiös und profan. Profan ist der ursprünglichen Bedeutung nach der Bezirk außerhalb eines Heiligtums. Aber auch diese Unterscheidung gibt es: Bei einer religionssoziologischen Umfrage am Leipziger Hauptbahnhof erklärte ein Jugendlicher, er sei nicht religiös sondern - normal. Und vielleicht denken heute auch sonst viele Menschen beim Wort "religiös" an besondere Verhaltensauffälligkeiten, an Ekstase und Visionen, an paranormale Phänomene wie Tischerücken und Gabelverbiegen oder an fundamentalistischen Fanatismus.

Ein rein funktionaler Religionsbegriff hat freilich mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass er am Ende völlig willkürlich und beliebig wird. Deshalb schlägt der Religionssoziologe Detlef Pollack eine Definition vor, die ein funktionales mit einem substanzialistischen Religionsverständnis verbindet. Zugleich bestreitet er, dass Religion zum Wesen des Menschen gehöre, für eine ausgebildete Persönlichkeit also unvermeidlich sei. Religion ist zwar eine Antwort auf die Sinnfrage - allerdings nur eine neben anderen.

"O aller Welt Verlangen"

Worin aber unterscheidet sich Religion von anderen Sinnangeboten? Dazu möchte ich an die klassische Religionsdefinition des großen evangelischen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768- 1834) erinnern, Religion sei das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit.

Zum Menschsein gehört eine eigentümliche Grundpassivität. Sie zeigt sich nicht nur in Geburt und Tod, im Leiden, in unserer Hilfsbedürftigkeit und Verletzlichkeit, sondern vor allem in der Liebe und im Verzeihen. Das Entscheidende kann der Mensch sich selbst nicht geben: Liebe und Vergebung. Sie kann er nur als Geschenk bzw. als Gnade empfangen. Religion kultiviert die Erfahrung und das Bewusstsein unserer Empfänglichkeit. "Was hast du, das du nicht empfangen hast?", erinnert Paulus seine Leser im 1. Korintherbrief 4,7.

Das ist nun ein dezidiert theologischer Begriff von Religion. In einem bekannten Adventlied Paul Gerhards (1607-1676) heißt es: "Wie soll ich dich empfangen und wie begegn' ich dir, / o aller Welt Verlangen, o meiner Seelen Zier?" Religiös sein bedeutet aber nicht nur, für Gott oder irgendeine Transzendenz, sondern auch für die Welt um uns herum und für unsere Mitmenschen besonders empfänglich und aufmerksam zu werden. Der Empfänglichkeit aber entspricht die Dankbarkeit. Religiös ist das Bewusstsein, das Leben und alles, was es ausmacht, nicht sich selbst zu verdanken. Und so verstehe ich Religion: als Schule meiner Empfänglichkeit und als Einübung in die Dankbarkeit. Ist nicht genau das auch der Sinn von Weihnachten?

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Systematische Theologie an der Evang.-Theol. Fakultät Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung