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München 1972 und die Folgen: Kann eine Gesellschaft in Frieden leben, wenn sie töten muss, um sich zu schützen?

München September 1972. Palästinensische Terroristen dringen in das Olympische Dorf ein und überfallen das israelische Olympiateam. Zwei Israelis sterben, neun werden als Geiseln festgehalten. Ein Befreiungsversuch auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck missglückt völlig, alle Geiseln kommen ums Leben. Nach diesen Ereignissen erhalten israelische Agenten den Auftrag, palästinensische Terroristen und Hintermänner zu töten. "München", Steven Spielbergs neuer Film, schildert diese Anschläge, detailreich und mit allen Ingredienzien des Agentenfilms.

Vom Geschäft des Tötens

Die Authentizität seiner Quelle wird allerdings von Experten in Zweifel gezogen. Der Film, laut Vorspann "von tatsächlichen Ereignissen inspiriert", stützt sich auf das umstrittene Buch "Vengeance" ("Rache"), des kanadischen Autors George Jonas. Zudem stellt die Aneinanderreihung von Tötungsakten die Geduld auf die Probe. Die Spannung ergibt sich vor allem aus Details: Wird statt des Vaters seine Tochter sterben? Wann geht im Bett die Bombe hoch?

Andererseits aber macht "München" dramatisch deutlich, wie sich das Geschäft des Tötens verselbständigen kann. Die Zusammenhänge gehen verloren; was zählt, ist allein die perfekte Operation. Man hat Spielberg vorgeworfen, er nivelliere Gut und Böse und stelle Terroristen und Agenten auf dieselbe Stufe. Aber genau das ist, noch vor einer Debatte über Recht und Unrecht, sein Thema: Irgendwann werden die Jäger zu Gejagten, der Mut kommt als Angst zurück. Und eine Rückkehr in ein Leben mit Frau und Kind ist fast unmöglich (Filmrezension auf der gegenüberliegenden Seite).

"Weiche" Ziele

London, Juli 2005. Beim Spaziergang an der Themse beschleunigt Yosri Fouda den Schritt. Er wolle, sagt er, am Millenniums-Riesenrad schnell vorbeigehen. Für Terroristen sei es nämlich ein lohnendes Anschlagsziel, mit der Aussicht auf viele Opfer. Wenige Tage später explodieren Bomben in Bus und U-Bahn. Die Terroristen haben ein anderes "weiches" Ziel ausgewählt.

Fouda, London-Chef des arabischen Fernsehsenders Al Jazeera, wurde im April 2002 von Al Kaida nach Pakistan gelotst, um mit den Drahtziehern der Terroranschläge des 11. September, Ramzi Binalshibh und Khaled Sheikh Mohammed, zu sprechen. Er erlebte die beiden Chefterroristen, die mittlerweile beide verhaftet sind, aus nächster Nähe. Er sah, dass Binalshibh, ganz im Unterschied zu seinem Kollegen, in religiösen Dingen sehr bewandert war. Mit Staunen musste er feststellen, wie leicht es ihm dennoch fiel, den Mord an Tausenden Menschen in New York und Washington zu rechtfertigen - obwohl der Koran die Tötung von Zivilisten klar verbietet.

Die beiden Terroristen schilderten Fouda unter anderem Träume der "Brüder", die ihre Anschläge vorwegnahmen. Sie seien in der Luft geschwebt, umgeben von grünen Vögeln, und dann in Dinge gekracht. Ein Fall für Psychologen. Was hat die jungen Männer tatsächlich dazu bewogen, ihre Religion, ganz gegen deren Intention, auf so schreckliche Weise gegen die vermeintlichen Feinde zu richten? "Als Muslim, als Ägypter, als Araber", sagt Yosri Fouda, "würde ich mir eine Erklärung sehr wünschen."

Gut 33 Jahre ist der Anschlag von München her. Aber der Terrorismus ist nach wie vor ein Thema.

Immer noch ist der Nahostkonflikt eine Quelle von Gewalt. Die Terroristen von München wollten 232 palästinensische Gefangene sowie die beiden Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof freipressen. Gleichzeitig wollten sie die Welt auf die Lage der Palästinenser aufmerksam machen. Die Gruppe war zum Äußersten entschlossen. Aber ihr Anschlag richtete sich gegen ausgewählte Personen, hatte eine klare Botschaft. Demgegenüber zielte der "rechte Terrorismus" - wie etwa der Bombenanschlag der Wehrsportgruppe Hoffmann auf das Münchner Oktoberfest 1980 - auf maximale Zerstörung und Opferzahlen, um aus dem Schrecken Kapital zu schlagen. Dieser Versuch, möglichst viele Menschen zu töten, charakterisiert auch den heutigen Terrorismus.

"Rechter" Terrorismus

Was ihn außerdem kennzeichnet, ist die religiöse Motivation. Al-Kaida ist nicht aus dem Kampf gegen die israelische Besatzung hervorgegangen, sondern aus dem Widerstand islamistischer Gruppen gegen aus ihrer Sicht heidnische Regime. Nach dem Krieg der Mujaheddin gegen die Sowjets in Afghanistan blieben viele Kämpfer unter Waffen, der Dschihad zur Verteidigung des Islam wurde zum Selbstzweck. Ein ausgeprägter Märtyrerkult in Palästina verhalf der Taktik des Selbstmordattentats zum Durchbruch. Zunächst wurde sie von Marxisten angewandt (1972 auf dem Flughafen Tel Aviv-Lod), später fand sie unter frommen Muslimen Zuspruch. Das Verbot, Zivilisten zu töten, umging man mit dem Argument, Israel sei ein militarisierter Staat, in dem eigentlich keine Zivilisten lebten.

Medienereignis Terror

Dieses Argument wurde von den Dschihadisten aufgegriffen. Al Kaida-Chef Osama bin Laden sprach auch Amerikanern und Briten den Zivilisten-Status und damit den Schutz der Religion ab. Sowohl die palästinensische Hamas (vgl. Seite 4 dieser Furche) als auch die libanesische Hisbollah haben sich mehrfach scharf von den Anschlägen der Al-Kaida in den usa und Europa distanziert. Für sie ist eine Ausweitung des Kampfes mehr als kontraproduktiv. Aber das hindert Al Kaida nicht, ihre Drohungen aufrechtzuerhalten.

Der gegenwärtige Terrorismus ist ein Medienereignis. Die Bilder von den Flugzeugattacken auf das World Trade Center gingen um die Welt. Kameras gehören zum terroristischen Kalkül. Dabei scheinen die Video-und Tonbandbotschaften Osama bin Ladens längst veraltet. Die Gruppe um Terroristenführer Mussab al Sarkawi im Irak zeichnet Botschaften der Selbstmordattentäter auf, filmt den Anschlag und stellt das Material umgehend ins Internet.

Was tun? Vermutlich werden auch derzeit Geheimaktionen durchgeführt, die irgendwann im Kino zu bestaunen sind. "Gezielte Tötungen" sind nach wie vor ein Mittel im Kampf gegen den Terrorismus. Nach dem Urteil von Experten ist Al Kaida mittlerweile geschwächt und nur sehr eingeschränkt handlungsfähig. Aber lassen sich allein durch den beabsichtigten militärischen Erfolg die Probleme lösen?

In den Augen der muslimischen Welt ist der Westen moralisch schwer beschädigt. Wenn bei einem "gezielten Tötungsversuch" der Tod von Frauen und Kindern in Kauf genommen wird, ist bei den Betroffenen die Empörung darüber nicht kleiner als nach einem Selbstmordanschlag in Europa. Aus arabischer Sicht sind die zivilen Opfer, die etwa die Invasion im Irak gefordert hat, durch nichts zu rechtfertigen.

Dennoch: Die großen Religionen und Kulturen sind nicht so unterschiedlich, dass ein Kampf der Kulturen unausweichlich wäre, sagt Yosri Fouda. "Die Integration kann gelingen, wenn wir sie wirklich wollen." "Wir werden auch mit den Terroristen reden müssen", meint der ägyptische Ex-Minister und Rechtsprofessor Kamal Aboulmagd in Kairo. "Einige sind vollkommen verrückt, aber andere nur zur Hälfte oder zu einem Viertel. Mit ihnen muss man beginnen."

Dialog als Antwort?

Dialog als Antwort auf Gewalt? Ist es naiv, daran auch nur zu denken? Aber gibt es eine echte Alternative?

Die Frage nach der Rückkehr in die Normalität stellt sich über Steven Spielbergs Film hinaus: Kann man vom Töten ins Leben zurück? Kann eine Gesellschaft auf lange Sicht in Frieden leben, wenn sie töten muss, um sich zu schützen?

"The Games must go on", sagte der Präsident des Olympischen Komitees, Avery Brundage, in München 1972: Parole einer Welt, die sich nicht unterbrechen lässt. Auch nicht, wenn ihr drastisch vor Augen geführt wird, wie ungelöst die Fragen von Krieg, Gewalt und Terror nach wie vor sind.

Der Autor ist Religionsjournalist und Dokumentarfilmer beim orf (u.a. "Töten für Allah - religiöse Gründe des Terrorismus", September 2005).

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