Fahnen - © Foto: APA / Roland  Schlager

Von Wolfgang Schüssel zu Sebastian Kurz: Wende in Türkis-Blau

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Wie lautet die Bilanz von 17 Monaten Türkis-Blau? Und was sind Parallelen und Unterschiede zu Schwarz-Blau I? Ein Gastkommentar von Emmerich Tálos

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Wie lautet die Bilanz von 17 Monaten Türkis-Blau? Und was sind Parallelen und Unterschiede zu Schwarz-Blau I? Ein Gastkommentar von Emmerich Tálos

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Mehr als zehn Jahre nach der Abwahl der Regierung Schüssel kam es erneut zur Bildung einer ÖVP-FPÖ-Koalition unter dem Führungsduo Kurz/Strache. Deren Startbedingungen waren wesentlich andere als im Jahr 2000. Die Regierung Schüssel hatte den Gang zur Angelobung beim Bundespräsidenten angesichts massenhafter Proteste gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ „unterirdisch“ beschritten. Von den anderen Mitgliedsländern der EU wurden gegen die schwarz-blaue Regierung Sanktionen ergriffen. Im Unterschied dazu erfuhr Kanzler Kurz seitens Spitzenvertretern der EU eine freundliche Begrüßung, die Kritik an der FPÖ hielt sich in Grenzen. Innerösterreichisch gab und gibt es Protest gegen Schwarz/Türkis-Blau, dieser fiel schwächer aus als in den 2000er-Jahren. Dass sich ÖVP und FPÖ relativ schnell auf eine Koalition einigen konnten, war nicht überraschend.

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Der Wahlkampf im Jahr 2017 ließ deutlich erkennen, dass es viele inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen der ÖVP unter ihrem neuen Obmann Kurz und der FPÖ gab. Fiel die ÖVP bei der Nationalratswahl 1999 auf den dritten Platz, so erreichte sie 2017 deutlich mehr als ihr Koalitionspartner. Ebenso wie die erste Auflage von Schwarz-Blau trat auch die neuerliche ÖVP-FPÖ-Koalition mit dem Anspruch an, Stil und Inhalt der Politik einschneidend zu ändern. Dass sich ÖVP und FPÖ relativ schnell auf eine Koalition einigen konnten, war nicht überraschend. Der Wahlkampf im Jahr 2017 ließ deutlich erkennen, dass es viele inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen der ÖVP unter ihrem neuen Obmann Kurz und der FPÖ gab. Fiel die ÖVP bei der Nationalratswahl 1999 auf den dritten Platz, so erreichte sie 2017 deutlich mehr als ihr Koalitionspartner. Ebenso wie die erste Auflage von Schwarz-Blau trat auch die neuerliche ÖVP-FPÖ-Koalition mit dem Anspruch an, Stil und Inhalt der Politik einschneidend zu ändern.

Stilwechsel

Der „neue Stil“ sollte darin bestehen, vom „falschen Stil des Streits und der Uneinigkeit“ innerhalb der Regierung wegzukommen und den „Stil des positiven Miteinanders“ zu leben. Abgesichert wurde dies durch die strikt eingemahnte Verbindlichkeit des Regierungsprogramms und ein allgemein verbindliches Regierungswording („Message Control“). Dass dieser Stil nicht durchgehalten wurde, zeigt das Auseinanderbrechen der Regierung Kurz/Strache im Mai 2019. War bei Schüssel von „speed kills“ die Rede, so wählte Vizekanzler Strache das Bild vom „rot-weiß-roten Reformzug“.

Emmerich Tálos - © APA/ANNIEV KOSTA

Emmerich Tálos

Der Autor ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Uni Wien

Die tradierten Spielregeln der Verhandlungsdemokratie erfuhren dabei erneut einschneidende Veränderungen: Die Wende erfolgte in Richtung Mehrheits- und Konfliktdemokratie. Das vor allem von Kanzler Kurz wiederholt betonte Miteinander galt einige Zeit nur für die Beziehungen innerhalb der Regierung, nicht jedoch darüber hinaus: es gab keine Einbeziehung der politischen Opposition, keine paritätische Beteiligung der Verbände an Entscheidungsprozessen. Deutlichsten Ausdruck fand die Änderung der traditionellen Spielregeln in der Ausschaltung der Sozialpartnerschaft als einem zentralen politischen Gestaltungsfaktor.

Diese wurde zwar auch schon unter Kanzler Schüssel praktiziert, allerdings unter Kurz/Strache radikalisiert. Es gab keine Verhandlungen bei arbeits- und sozialrechtlichen Beschlüssen, meist nicht einmal Begutachtungsmöglichkeiten bei Materien, die vor allem die Arbeitnehmerorganisationen betrafen. Herausragendes Beispiel dafür ist die Anhebung der möglichen täglichen Arbeitszeit auf zwölf Stunden, der wöchentlichen Höchstarbeitszeit auf 60 Stunden. Am Protest dagegen nahmen rund 100.000 Menschen teil.

Die tradierten Spielregeln der Verhandlungsdemokratie erfuhren einschneidende Veränderungen: Die Wende erfolgte in Richtung Mehrheits- und Konfliktdemokratie.

Eng verbunden mit der Ausgrenzung der Arbeitnehmerorganisationen aus politischen Entscheidungsprozessen war das durchaus erfolgreiche Bestreben, diese auch institutionell zu schwächen. Dies ist exemplarisch an weitreichenden Eingriffen in die Selbstverwaltung der Sozialversicherung ersichtlich. Diese war seit ihrer Einführung Ende der 1880er-Jahre durch eine Mehrheit der Arbeitnehmervertreter in der Krankenversicherung geprägt – dies selbst also in einer Zeit, in der die Arbeiterschaft noch keinerlei politische Rechte hatte.

Der Austrofaschismus, der die freie Arbeiterbewegung ausschaltete und einen tiefgreifenden Abbau der sozialstaatlichen Leistungen betrieb, reduzierte die Mehrheit der Arbeitnehmervertreter, beseitigte sie aber nicht. In der Zweiten Republik betrug bis zum schwarz/türkisblauen Umbau der Sozialversicherung im Dezember 2018 das Vertretungsverhältnis 4:1 zuguns ten der Arbeitnehmervertreter. Schwarz/Türkis-Blau beschloss gegen heftigen Protest die Parität der Vertretung von Dienstgebern und Arbeitnehmern in der neu formierten Gesundheitskasse Österreich. Die gesetzlich vorgesehene Parität besteht allerdings nur formell, nicht real. Denn abgesehen von den politisch eindeutig der ÖVP zuordenbaren Dienstgebervertretern finden sich in der Gruppe der Arbeitnehmervertreter auch Repräsentanten der ÖVP-Arbeitnehmer.

Emmerich Tálos Cover Schwar-Blau - © LIT Verlag
© LIT Verlag
Buch

Die Schwarz-Blaue Wende in Österreich

Eine Bilanz
Von Emmerich Tálos (Hg.)
LIT Verlag 2019
480 Seiten, brosch., € 29.80

Die Einführung der Parität hat das Entscheidungsgewicht verschoben. Ein aktuelles, eindrückliches Beispiel dafür ist die Bestimmung der Direktoren der Gesundheitskasse, des Generaldirektors und seiner Stellvertreter, durch den Überleitungsausschuss, der von der Regierung Kurz/Strache eingesetzt wurde: der Generaldirektor wie auch einer seiner Stellvertreter zählen zur ÖVP, ein weiterer Stellvertreter zur SPÖ und der dritte Stellvertreter ebenso zur ÖVP, ungeachtet dass dieser von der FPÖ nominiert wurde. Die Machtverschiebung zugunsten der ÖVP ist am Abstimmungsverhältnis ersichtlich: Sämtliche Dienstgebervertreter und ein Vertreter der ÖVP Arbeitnehmer überstimmten die fünf FSG-Vertreter. Von Parität kann keine Rede sein. Ob dieser gravierende Umbau der Sozialversicherung vor dem Verfassungsgerichtshof halten wird, wird erst dessen Urteil über einschlägige Einsprüche zeigen.

Die Schieflage zugunsten der Unternehmer ist an weiteren Beschlüssen wie der Reduktion der Ruhezeit im Tourismus, an der Regelung des Karfreitag-Feiertages oder der Deckelung der Strafsumme bei Meldeverstößen von Unternehmern ablesbar. Nicht überraschend daher, dass die Wirtschaftskammer (WKO) in ihrer Agenda 2018 feststellte: „Dank des Einsatzes der WKO trägt das Regierungsprogramm die Handschrift der Wirtschaft“. Eine Schieflage auf einer anderen Ebene ist der restriktive und ausgrenzende Umgang mit Asylwerbern, Asylberechtigten und Ausländern. In die Regierungsprogrammatik und Regierungspraxis ist die Position der FPÖ merkbar eingeflossen und wurde von der ÖVP mitgetragen. Spaltungs- und Ausgrenzungspolitik ist ersichtlich an Maßnahmen in der Staatsbürgerschaftspolitik (betreffend Aufenthaltserfordernis), an der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (hinsichtlich Zugang zu Arbeitsmarkt und Sozialleistungen sowie am unterschiedlichen Leistungsniveau), nicht zuletzt an der verschärften Asylpolitik (wie der Schlechterstellung in der Versorgung).

Attacken auf Grundrechte

Im Unterschied zur Regierung Schüssel gab es unter Kurz/Strache Attacken auf Grundrechte, Rechtsstaat und Menschenrechte. Ein Beispiel dafür ist der von Innenminister Kickl betonte Grundsatz, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht. Derartige Aussagen haben insofern eine neue Qualität, als es Derartiges bisher nicht in Erklärungen von auf die demokratisch-rechtsstaatliche Verfassung vereidigten Amtsträgern gegeben hat. Seitens der ÖVP wurde die Infragestellung des Rechtsstaates durch Vertreter des Koalitionspartners gelegentlich kritisiert.

Die Kritik war allerdings kaum geeignet, den Eindruck zu zerstreuen, dass hier mit Doppelbotschaften gearbeitet wurde. Schwarz/Türkis-Blau hat in der verkürzten Regierungszeit eine Reihe geplanter Vorhaben durchgesetzt. Einschneidende Veränderungen wie beispielsweise den Umbau der Arbeitslosenversicherung mit der Abschaffung der Notstandshilfe schaffte sie nicht mehr. Denn ebenso wie die Regierung Schüssel I wurde auch die schwarz/türkis-blaue Koalition vorzeitig aufgelöst. Das auf Ibiza heimlich aufgenommene Video belastete Vizekanzler Strache schwer und führte zu seinem Rücktritt mit nachfolgender Beendigung der Regierungszusammenarbeit. Bemerkenswert im Vergleich mit dem Bruch der ersten schwarzblauen Regierung unter Schüssel ist, dass nicht innerparteiliche Konflikte, sondern die Korruptionsanfälligkeit eines Spitzenfunktionärs die Regierungsbeteiligung der FPÖ im Mai 2019 vorzeitig beendete.

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