Wenn Überleben unmöglich wird

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Rund 25 Millionen Menschen flüchten aus zerstörten Lebensräumen - die Zahl der Umweltflüchtlinge übersteigt die der Kriegsflüchtlinge bei weitem.

Die Buchstaben sind gekritzelt, und aus dem Wort "Senehgal" wurde flüchtig das überflüssige "h" herausgestrichen. Die Botschaft jedoch ist eindringlich: "Warum müssen Kinder im Senegal Wasser trinken, mit dem wir nicht einmal Autos waschen würden? Könnt ihr nichts dagegen tun?" Aus dem Mund eines treuherzig von Kinderhand gezeichneten schwarzen Buben und des seine Hand haltenden lachenden Mädchens bewegt die Frage. Der Spendenaufruf des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) ist prägnant. Knapper konnte man wohl nicht fragen, warum auf der Welt 1,2 Milliarden Menschen kein sauberes Trinkwasser haben. Was die Lage verschärft: Mehr als doppelt so viele leben ohne hinreichende Abwasserentsorgung, überhaupt werden auf der ganzen Welt nur fünf Prozent des Trinkwassers gereinigt. Dadurch werden die verbleibenden natürlichen Vorräte verschmutzt, zur Brutstätte von Keimen und zum Hort chemischer Gifte.

Die Folge sind nicht nur Krankheiten und drei bis vier Millionen Tote im Jahr durch unreines Wasser. In den Entwicklungsländern macht sich eine steigende Zahl an Menschen auf den Weg aus ihren Heimstätten. Diese sogenannten Umweltflüchtlinge suchen nach Orten, in denen zu leben wieder möglich wird. Erst Mitte der achtziger Jahre hat ein Mitarbeiter des UN-Umweltprogrammes UNEP die Bezeichnung geprägt. Dem Experten zufolge fällt darunter, wer "von gravierender Umweltbelastung, sei sie natürlicher oder menschlicher Ursache, gezwungen wurde, seine Wohnstätte zeitweilig oder auf Dauer aufzugeben, da sonst der Existenzverlust oder eine schwerwiegende Verschlechterung in der Lebensqualität eingetreten wäre".

So bürokratisch die Bezeichnung klingt, so schwer sind die Umweltflüchtlinge in Zahlen zu fassen. Die Schätzungen reichen von 25 Millionen bis hin zu 500 Millionen Menschen - je nachdem, welche Maßstäbe man zugrunde legt. Immerhin hat die Migration verschiedene Ursachen: Bevölkerungsexplosion ebenso wie Wüstenbildung, Austrocknen von Wasservorräten wie plötzliche Überschwemmungskatastrophen. Doch selbst bei vorsichtiger Schätzung übertrifft laut UNEP die Anzahl der Umweltflüchtlinge jene der Kriegsflüchtlinge bei weitem. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen rechnet im Vergleich dazu "nur" mit 18 Millionen politischen, religiösen und ethnischen Flüchtlingen weltweit.

Soziale Sprengkraft

Das Völkerrecht bietet hier keine Handhabe: Die "Environmental Refugees", so die englische Originalbezeichnung, fallen nicht unter den traditionellen Flüchtlingsbegriff. Die Genfer Konvention aus dem Jahr 1951 entstand unter dem Eindruck der Flüchtlingsströme der Weltkriege. Sie bietet zwar religiös, rassistisch oder politisch Verfolgten sowie Opfern internationaler Kriege Zuflucht, Umweltzerstörung ist dort allerdings noch unbekannt. Ein weiteres Problem: Meist handelt es sich bei den Flüchtenden um Binnenflüchtlinge; da keine nationale Grenze überschritten wird, werden die genauen Flüchtlingsströme nicht gemessen. In China wachsen die Wüsten beispielsweise um rund 10.400 Quadratkilometer im Jahr, inzwischen ist ein Drittel des Landes unfruchtbar. Die abwandernden Bauern zu zählen ist schwer, immerhin sind selbst die offiziellen Bevölkerungsstatistiken einiger Provinzen nur "über den Daumen" gepeilt. Zehntausend Leute mehr oder weniger - wer weiß das im fernen Peking schon?

Die politische und soziale Dimension der Problematik ist gewaltig. Immerhin rechnet UNEP mit 150 Millionen Umweltflüchtlingen in weniger als zwei Generationen. Das Thema wird deshalb zu den Punkten gehören, die beim "Rio-plus-zehn-Gipfel" im September in Südafrika ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Immerhin waren historisch gesehen Wanderungsbewegungen durch Umweltveränderungen prägend für die moderne Zivilisation. Bevölkerungswachstum und Lebensraumveränderungen waren Mitauslöser der Völkerwanderung; auch der irische Exodus nach Amerika im 19. Jahrhundert war Folge von Umweltveränderungen: eine eingeschleppte Kartoffelfäule, Seuchen durch unreines Trinkwasser ließen die Bevölkerung von acht Millionen Menschen auf kaum mehr als fünf schrumpfen - ein Gutteil emigrierte, der Rest überlebte nicht. Schon in der Bibel finden sich übrigens reichlich Beispiele von Umweltflucht. Prominentester unter den Fliehenden ist Noah, der laut dem Buch Genesis dank seiner Arche die Sintflut überlebte.

Heute ist es nicht einfach eine göttliche Flut, oftmals löst eine Vielzahl an Gründen die Flucht aus. In Expertenkreisen gilt als grobe Übersicht die "4-D-Formel": Deposition, Degradation, Desaster und Destabilisierung. Unter Deposition ist eine steigende Schadstoffmenge gemeint, die ein Ökosystem kippen lässt oder eine Region unbewohnbar macht. Bekanntestes Beispiel ist die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die rund 130.000 Menschen zwang, die verseuchte Region zu verlassen.

Klimawandel

Weitaus häufigere Ursache ist die Degradation, also die schleichende Verschlechterung eines Kulturlandes. Darunter fällt die Wasserproblematik Senegals ebenso wie große Dürren. Dass es dabei allerdings nicht nur die Dritte Welt trifft, zeigte sich schon in den dreißiger Jahren in den Vereinigten Staaten. Durch aufkommende Großmaschinen zur landwirtschaftlichen Bodenbearbeitung wurde die fruchtbare Ackerkrume der "Great Plains" ausgelaugt und verweht. Allein aus Oklahoma zogen rund 300.000 bettelarme Bauern in die Städte, die selbst gerade mit der Weltwirtschaftskrise kämpften. Gelernt wurde daraus scheinbar wenig. Die intensive Bewirtschaftung sorgt heutzutage in weiten Teilen der ehemaligen Sowjetunion für weitaus schlimmere Verhältnisse.

Eine steigende Anzahl an Naturkatastrophen (Desaster), mutmaßlich hervorgerufen durch den Klimawandel, fordert besonders in unterentwickelten Regionen ihre Opfer. Je höher die Bevölkerungsdichte, je schlechter die Unterkünfte und je geringer die Ausgaben für den Katastrophenschutz, desto rauer können die Naturkräfte walten. Ein Beispiel beklemmender Armut und geographischer Problemlage ist Bangladesch. Das Land gilt als unbewohnbar, da es im Deltabereich von Ganges, Brahmaputra und Meghna liegt. Im Oktober vergangenen Jahres machte ein Tornado rund 50.000 Menschen zu Flüchtlingen, im Jahr zuvor flüchteten 3,5 Millionen vor Überschwemmungen. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen: 1998 eine schwere Flut, 1996 ein Tornado, 1991 ein Zyklon bis zurück zur Jahrhundertkatastrophe 1970. Damals forderte eine Flut eine halbe Million Menschenleben, Millionen wurden obdachlos. Inzwischen lässt sich die Zahl der Umweltflüchtlinge in dem 130 Millionen Einwohner zählenden Land nicht einmal mehr annäherungsweise beziffern.

Umweltveränderungen können in Folge zu politischer Destabilisierung führen. Mit den Krisenszenarien der "Kriege um Wasser" lassen sich meterweise Buchregale füllen. Allerdings wäre bei einem gewalttägigen Konflikt fraglich, ob es sich dann noch um Umweltflüchtlinge handelte. Jedenfalls ist die Lage politisch brisant - immerhin sind rund 220 Flüsse grenzüberschreitend, mit zwei bis zwölf Anrainerstaaten. Besonders betroffen ist das Pulverfass Naher Osten. Schon als Generalsekretär der Vereinten Nationen hat Boutros Boutros-Ghali davor gewarnt, dass künftige Konflikte in der Region nicht um Öl, sondern um Wasser geführt würden.

Im "Senehgal" übrigens hat die UNICEF-Spendenaktion für sauberes Wasser bereits Erfolge gegen Wanderungsbewegungen gezeigt. Die hygienisch gefährliche Situation wurde in acht Städten dank 15 öffentlicher Brunnen, 30.000 Meter Wasserleitungen und mehr als 5.000 Latrinen entschärft. Seit die Hilfe für die Städte am Rande der Sahel-Zone Mitte der neunziger Jahre angelaufen ist, bekommen rund 100.000 Menschen sauberes Wasser - unter ihnen sind 40.000 Kinder.

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