Wer nachfragt, stirbt

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Nach der Ermordung der russischen Menschenrechtlerin und Journalistin Natalja Estemirowa haben Trauernde Tafeln in die Höhe gehalten mit der Aufschrift: „Wer ist der Nächste?“ Die beste Antwort darauf ist Ernest Hemingways Roman „Wem die Stunde schlägt“ und das diesem Buchtitel zugrunde liegende Zitat: „… frage nicht, wem die Glocke schlägt; sie schlägt dir.“

Denn eines ist nach der Entführung und Hinrichtung von Natalja Estemirowa in Tschetschenien eindeutig: Wer weiterhin nachforscht in Russland, über die Kriege in Tschetschenien, über die Menschenrechtsverletzungen, die Verschleppungen, Folterungen, Ermordungen im Nordkaukasus, wer fragt, offenlegt, kritisiert, der und die sind die Nächsten – und tot.

Deswegen ist es nur zu gut verständlich, wenn die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ nach dem Mord an ihrer Mitarbeiterin Estemirowa die Arbeit in Tschetschenien beenden will. Aus dem Memorial-Vorstand heißt es: „Der Mord hat gezeigt, dass die Arbeit in Tschetschenien Todesgefahr bedeutet. Wir können das Leben unserer Kollegen nicht gefährden, auch wenn sie selbst die Arbeit fortsetzen wollen.“

Kein Widerstand aus Zeitvertreib

Und davon kann man ausgehen: Eine Anna Politkowskaja (†), ein Magomed Jewlojew (†), ein Stanislav Markelow (†), eine Anastassija Baburowa (†) oder eine Natalja Estemirowa (†) waren ja keine Menschenrechtsaktivisten und Wahrheitssucher und Kritiker aus Zeitvertreib oder brachten sich in Lebensgefahr, weil sie sonst keine spannende Arbeit gefunden hätten. Sie und ihre Vorgänger und Nachfolger in Russland und überall, wo Menschen mit Füßen getreten und letztlich zertreten werden, sind ja getrieben von dem Wissen, das Hemingway in „Wem die Stunde schlägt“ so beschreibt: „Kein Mensch ist eine Insel, allein für sich selbst; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen …“

Von oben verordnete Apathie

Ein Stück von diesem Wissen mag auch in Russlands Präsidenten Dmitri Medwedew aufgeleuchtet sein, als er sichtlich betroffen auf die Ermordung Estemirowas reagiert hat. Anders als bei früheren Morden reagierte der Kreml-Chef diesmal prompt, forderte restlose Aufklärung und eine harte Bestrafung der Täter. Auch ihrer Hintermänner und Oberchefs?

Sollte Medwedew das wirklich wollen, muss er sich sehr in die russischen Machtnesseln setzen. Denn er mag seinem Gast in Moskau, Barack Obama, geglaubt haben, dass Meinungs- und Redefreiheit universell sind, und dass Staaten, die das ignorieren, letztendlich scheitern werden. Doch dass dieses Credo von Russlands Premier Wladimir Putin oder gar Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow ebenfalls unterschrieben wird, glaubt keiner.

Und damit ist man beim Grundübel des heutigen Russlands. „Memorial“-Gründer Arsenij Roginskij hat es im FURCHE-Interview einmal so beschrieben: „In den letzten Jahren hat sich in der russischen Bevölkerung eine Apathie breitgemacht, weil man nicht mehr glaubt, dass man irgendetwas ändern kann. Erneut greift der Eindruck um sich – wie in der sowjetischen Zeit –, dass der Mensch nur ein kleines Rädchen und der Staat allmächtig ist.“ Natalja Estemirowa hat sich gegen diese verordnete Apathie gewehrt. Sie wollte kein Rädchen sein, an dem man beliebig herumdreht. Sie wollte keinen Staat, der seine Bürger nicht schützt. Sie wollte ein freies Russland. Andere wollen das auch. Sie werden die Nächsten sein.

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