Wer wird sich um uns KÜMMERN?

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Die Politologin Erna Appelt über die aktuelle Care-Krise, die Probleme in der 24-Stunden-Betreuung und ihre Forderung nach einem Vollversorgungsmodell.

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Die Politologin Erna Appelt über die aktuelle Care-Krise, die Probleme in der 24-Stunden-Betreuung und ihre Forderung nach einem Vollversorgungsmodell.

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Wurde mit der Legalisierung der 24-Stunden-Betreuung der "Pflegenotstand" in Österreich beseitigt? Mitnichten, meint die Innsbrucker Politologin Erna Appelt. Sie sieht den gesamten Bereich der Sorge-Arbeit in der Krise -und fordert mehr "Care-Gerechtigkeit".

DIE FURCHE: Frau Professor Appelt, Sie orten in Österreich - wie in den meisten westlichen Ländern -eine "Care-Krise", die sich künftig weiter verschärfen wird. Welche Faktoren heizen diese Krise an?

Erna Appelt: Es sind drei Aspekte: Erstens wird es immer mehr Menschen geben, die Betreuung und Pflege am Ende ihres Lebens brauchen -auch wenn sich der Zeitpunkt der Pflegebedürftigkeit nach hinten verschiebt. Zweitens wird es tendenziell weniger Personen geben, die diese Pflege leisten können, weil es immer weniger Dreigenerationen-und immer mehr Einpersonenhaushalte gibt: Vielfach leben die Jungen aus beruflichen Gründen in einer anderen Stadt und können deshalb die unmittelbare Pflege gar nicht mehr durchführen, selbst wenn sie wollten. Dazu kommen noch die beruflichen Anforderungen, vor allem an die Frauen. Es entsteht also eine Care-Lücke - und zwar an beiden Enden des Lebens. Diese Lücke öffnet sich aber je nach sozioökonomischer Ausstattung der Haushalte unterschiedlich weit: Sozial schlecht gestellte Familien trifft die Care-Krise unverhältnismäßig stärker als andere, die diese Lücke mit dem Zukaufen fremder Dienste überbrücken können. DIE FURCHE: Und der dritte Faktor?

Appelt: Der ist der vielleicht wichtigste: Das Hauptproblem ist, dass unsere Gesellschaft insgesamt zu sehr auf Erwerbsarbeit fokussiert ist und die ganze Care-Arbeit, also die Sorge, Fürsorge, Betreuung und Verpflegung abhängiger Menschen, völlig im Abseits steht. Doch diese Care-Arbeit ist unverzichtbar, deshalb gehört sie in den Mittelpunkt gerückt, das kann man nicht mit ein paar Karenzzeiten da und einer Entschädigung dort erledigen.

DIE FURCHE: Derzeit wird diese Care-Arbeit , die nicht nur wichtig, sondern vielfach auch schmutzig ist, überwiegend von den Angehörigen erledigt, insbesondere den Frauen

Appelt: Ja, mindestens zwei Drittel der Pflegearbeit wird in Österreich von Frauen geleistet. Natürlich machen sie auch Männer, vor allem, wenn es um die Ehefrauen geht. Allerdings gibt es oft große Unterschiede in dem, was genau geleistet wird -sowohl in der Kinder-wie auch in der Altenbetreuung: Die schmutzige, ekelige, unangenehme Arbeit wird überwiegend von den Frauen gemacht. Die Männer sind eher diejenigen, die alles regeln und organisieren.

DIE FURCHE: Auch in der 24-Stunden-Betreuung sind ganz überwiegend Frauen im Einsatz. Sie stehen diesem Modell, das 2008 legalisiert wurde, kritisch gegenüber. Warum? Appelt: Weil es im Grunde nur ein Modell für eine kleine, bürgerliche Schicht ist und fast nur auf die Interessen der zu pflegenden Personen und ihrer Familien abzielt. Faktum ist, dass durch das Hausbetreuungsgesetz eine Situation geschaffen wurde, die allen österreichischen Standards widerspricht -sowohl arbeitsrechtlichen als auch Lohnstandards. Ärzte dürfen jetzt nur noch 48 Stunden durchgängig arbeiten, doch Personenbetreuerinnen dürfen 14 Tage 24 Stunden lange rund um die Uhr arbeiten. Es gibt Annoncen, in denen eine 24-Stunden-Betreuung schon für 19 Euro pro Tag angeboten wird. Rechnen Sie sich einmal den dazugehörigen Stundenlohn aus! Dazu kommt, dass die meisten Frauen nicht direkt bei der Familie angestellt sind, sondern als Selbständige arbeiten -was de facto eine Scheinselbständigkeit darstellt. Sie müssen Abgaben zahlen, sind aber für alles selber verantwortlich und der Arbeitgeber, also die Familie, hat keine Kosten.

DIE FURCHE: Die Frauen machen es trotzdem, weil sie in ihrer Heimat noch weniger verdienen. Eine "Win-win-Situation", heißt es oft

Appelt: Ja, dieses System funktioniert, so lange es zwischen Österreich und den Nachbarländern dieses Wohlstands-und Einkommensgefälle gibt. Und dieses Gefälle wird ausgenutzt -zugunsten vorwiegend gut situierter Familien, die zum Pflegegeld auch noch eine zusätzliche Entschädigung erhalten. Aber das Problem ist, dass es durch diese Pendelmigration zu einem Care-Drain in den Heimatländern kommt. Entweder die Betreuerin ist alleinstehend -oder es bleiben unversorgte Kinder oder auch Alte zurück. Dieses Problem gibt es auch bei Haushaltshilfen: Viele Polinnen kommen hierher, um zu putzen, während ihre Kinder bei der Großmutter sind. Man muss dieses System also grundsätzlich kritisieren. Stattdessen bräuchten wir ein System, das nicht nur einigen wenigen hilft -und das natürlich auch für inländische Frauen und Männer attraktiv sein müsste, also adäquat bezahlt wird. Das ist der springende Punkt in der Debatte um die "Care-Krise": Wir müssen uns bewusst werden: Care-Arbeit hat einen hohen Wert, deshalb muss es unserer Gesellschaft auch etwas wert sein. Wir brauchen Care-Gerechtigkeit!

DIE FURCHE: Wie müsste Pflege Ihrer Ansicht nach organisiert und finanziert werden?

Appelt: Im Moment passiert alles noch sehr individualisiert: Die Ärzte stellen den Pflegebedarf fest -was schon kurios genug ist, weil Pflegekräfte das ja viel besser könnten - und dann bekommen die Einzelnen Pflegegeld. Besser wäre es, den gesamten Pflege-und Betreuungsbedarf in einer Community, also einer Gemeinde oder einem Sozialsprengel, zu erheben: Was können die Familien leisten? Und was muss von anderen professionellen Diensten abgedeckt werden? Und das muss dann auch bezahlt werden. Derzeit gibt es natürlich schon mobile Dienste und auch Tagesstätten, aber es passiert eben alles noch sehr individualisiert und vor allem in der Nacht gibt es dramatische Versorgungslücken. Wir bräuchten demgegenüber wirkliche "Caring Communities" - etwa nach dem Vorbild Dänemark -und ein Vollversorgungsmodell, das vom Recht jedes Menschen ausgeht, versorgt zu werden. Das wäre eine riesengroße Entlastung für die betroffenen Familien - bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass sie nun zehn Monate auf Urlaub fahren können. Es bleibt ja immer noch viel zu tun, insbesondere etwa bei Personen mit Demenz.

DIE FURCHE: Viele würden entgegnen, ein Vollversorgungsmodell sei nicht finanzierbar

Appelt: Also diesen Gedanken kann man nicht weit genug von sich weisen! Natürlich können wir uns das leisten, es ist eine politische Entscheidung, wofür wir unser Geld ausgeben: Wir können uns eine Hypo leisten, und wir können uns auch Bundestheater leisten, weil Österreich eine Kulturnation ist. Aber zur Kultur gehört auch die Pflege der alten Menschen -insbesondere auch der sozial schwachen Menschen oder jener, die keine Stimme haben.

Elder Care Intersektionelle Analysen der informellen Betreuung und Pflege alter Menschen in Österreich. Von Erna Appelt, Eva Fleischer und Max Preglau (Hg.), Studienverlag 2014.235 S., brosch., € 24,90

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