Wie ein heiliger Text

Werbung
Werbung
Werbung

Das kommende Jahr steht ganz im Zeichen des 150. Geburtstages von Sigmund Freud (1856-1939). Forschungsfeld der von ihm begründeten Psychoanalyse war das Unbewusste - und "Königsweg" dorthin der Traum. Kein Wunder, dass das Jahr 1900, in dem Freud seine (1899 fertig gestellte) "Traumdeutung" offiziell publizierte, als Geburtsjahr der Psychoanalyse gilt. Das vorliegende Dossier begibt sich - ausgehend von Freuds umstrittenem Jahrhundertwerk - auf die Spur der nächtlichen "Filme im Kopf". Redaktion: Doris Helmberger Peter Schneider über Sigmund Freuds "Traumdeutung", ihre angemessene "Exegese" - und den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit.

Es war ein Traum, der Sergej Pankejew den Namen gab, unter dem er in der Literatur berühmt wurde: der Wolfsmann. Der russische Aristokrat hatte als Vierjähriger von weißen Wölfen geträumt, die regungslos auf einem Baum vor dem Fenster saßen - und war daraus voll Angst erwacht. Für Sigmund Freud, an den er sich später Hilfe suchend wenden sollte, wird dieser Traum zum Leitmotiv der Psychoanalyse dieses Patienten. In den Details dieses Traums entschlüsselt Freud die unbewussten Motive, die Pankejews Neurose hervorbrachten: ein inzestuös-homosexueller Konflikt, "Sehnsucht nach sexueller Befriedigung durch den Vater - Einsicht in die daran geknüpfte Bedingung der Kastration - Angst vor dem Vater".

Begrenzte Zustimmung

Freud macht sich freilich keine Illusionen, dass die Leser ihm in dieser Deutung folgen. Spätestens die Ableitung des Angstaffekts aus der Kastrationsangst, so fürchtet er, "wird auch die Stelle sein, an der der Glaube der Leser mich verlassen wird". Die psychoanalytische Traumdeutung, in der geträumte Bilder nicht einfach eins zu eins in leicht fassliche Inhalte umgesetzt werden, sondern die sich - wie in diesem Fall - entsprechend langwierig mit dem Fortgang der gesamten Analyse vollzieht, ist nicht dazu angetan, beifällig zustimmendes Nicken hervorzurufen. Das Unbewusste ist eben nicht grundlos unbewusst.

Selbst in der Zustimmung verbirgt sich mancherlei Abwehr. Wenn Freuds Schüler Sándor Ferenczi 1918 an Freud schreibt, "alles, was die Psychoanalyse seither gefunden hat, findet man schon in der Traumdeutung'", so ist das zwar eine im Detail anfechtbare, aber keineswegs unplausible These. Zu Freuds 75. Geburtstag im Mai 1931 ergänzt Ferenczi seine Lobpreisung, dieses Buch sei ein "scharfgeschliffenes Juwel, inhaltlich und formal so fest gefügt, dass sie allen Wandlungen der Zeiten und der Libido widersteht, so dass sich die Kritik kaum an sie heranwagt". Von welcher unveränderten, unangetasteten Traumdeutung spricht Ferenczi?

Im Jahr 1899 hatte Freud sein Epoche machendes (und auf 1900 vordatiertes) Werk veröffentlicht. 1930 war schließlich die letzte Auflage der "Traumdeutung" erschienen, und wer die Geschichte dieser Auflagen verfolgt, kann wohl kaum von einem fest gefügten Kristall sprechen. Die "Traumdeutung" ist nämlich das Buch Freuds, das am meisten von allen seinen Werken umgearbeitet wurde. Der Urtext dieses Buches, mit dem die Psychoanalyse "als etwas Neues vor die Welt" (Freud) getreten ist, wurde selbst Gegenstand eines intensiven Veränderungsprozesses, der analog zu dem aufgefasst werden kann, was Freud die "Traumarbeit" nennt. In der "Traumdeutung" beschreibt Freud die Psyche als Umwandlungs-Apparat, der unbewusste (latente) Wünsche in bewusst erinnerte (manifeste) Traum-Geschichten verwandelt.

Verschleierter Wunsch

Zentrum des latenten Trauminhalts ist ein unbewusster Wunsch, der durch ein aktuelles Ereignis (einen "Tagesrest") geweckt wurde und nun den Schlaf zu stören droht. Dieser Wunsch ist dem Träumenden fremdartig, er passt nicht zu dem, was er als Bild seiner selbst entworfen hat. Der Schlaf kann darum nur ungestört weitergehen, wenn der Träumer erstens seinen drängenden Wunsch halluzinatorisch erfüllen kann und dies zweitens in einer entstellten Form geschieht: Der auslösende Wunsch wird verkleidet. Für diese Verkleidung ist die Traumarbeit verantwortlich, die aus dem antreibenden Wunschszenario eine mehr oder minder logisch konsistente Geschichte webt.

Das wäre der Inhalt der "Traumdeutung" in wenigen Zeilen: Gewiss nicht falsch, aber doch ein Verkennen all dessen, was sich nicht auf eine Quintessenz reduzieren lässt. Man liest die "Traumdeutung" so, als ob man - wie im Schülerwitz - die ellenlange Ballade Schillers vom "Taucher" in den Worten "Blubb-blubb, weg war er" zusammenfassen würde. Oder, drastischer ausgedrückt: Die "Traumdeutung" als Hardcore Porno: Wir kommen geradewegs zur Sache und halten uns nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf. Das Überflüssigste bei dieser Art von Lektüre ist das zu lesende Buch - der Merksatz tut es allemal und viel besser.

Eine psychoanalytische Lektüre nimmt sich hingegen der "Traumdeutung" auf eine Weise an, wie der "ungläubige Jude" Freud einen "heiligen Text" liest: "Jede Analyse könnte mit Beispielen belegen, wie gerade die geringfügigsten Züge des Traumes zur Deutung unentbehrlich sind, und wie die Erledigung der Aufgabe verzögert wird, indem sich die Aufmerksamkeit solchen erst spät zuwendet. Die gleiche Würdigung haben wir bei der Traumdeutung jeder Nuance des sprachlichen Ausdrucks geschenkt, in welchem der Traum uns vorlag; [...] Kurz, was nach der Meinung der Autoren eine willkürliche, in der Verlegenheit eilig zusammengebraute Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text." Die "Traumdeutung" psychoanalytisch zu lesen, heißt also, sie zu deuten. Und das ist eine ungewohnte Lektüre für einen Text, der behauptet, Teil des wissenschaftlichen Diskurses zu sein.

Entstelltes Material

Das Problem der "Traumdeutung" ist nicht, dass Freuds These, der Traum sei der Versuch der Erfüllung eines unbewussten Wunsches, gegen jegliche Einwände gefeit ist. Freud führt selber solche Einwände an - und entkräftet sie sorgfältig. Der gewichtigste Einwand gegen seine umfassende Theorie des Traums kommt aus der Traumdeutung selbst: "Sekundäre Bearbeitung" nennt Freud jenen Aspekt der Traumarbeit, der dafür sorgt, "dass der Traum den Anschein der Absurdität und Zusammenhangslosigkeit verliert und sich dem Vorbilde eines verständlichen Erlebnisses annähert". Je verständlicher Träume, desto mehr tragen sie den Stempel dieser "dem wachen Denken ähnliche[n] psychische[n] Funktion". Das bedeutet aber auch: Derselbe Mechanismus, der für die gründlichste Entstellung des Traummaterials sorgt, indem er den fremdartigen Wunsch in eine für das Bewusstsein akzeptable Geschichte verwandelt, sorgt auch für die Homogenität unseres Bewusstseins. Nimmt man diesen Gedanken Freuds ernst, folgt daraus eine radikale Kritik jedes Wissens und der Wissenschaft: Gerade die Lückenlosigkeit einer Theorie setzt sie dem Verdacht aus, das Produkt einer solchen sekundären Bearbeitung zu sein, die alles Unpassende als irrelevant oder absurd ausschließt.

"All die komplizierte Denktätigkeit", schreibt Freud in der "Traumdeutung", "stellt doch nur einen durch die Erfahrung notwendig gewordenen Umweg zur Wunscherfüllung dar. Das Denken ist doch nichts anderes als der Ersatz des halluzinatorischen Wunsches". Da der psychische Apparat aber nicht nur Träume hervorbringt, sondern auch Theorien über Träume, heißt das schließlich ebenfalls: Nur Wünsche generieren Wissenschaft.

Das ist die beunruhigende (unbewusste) Botschaft, die überall in der "Traumdeutung" zu Tage tritt - und die immer wieder "bearbeitet" werden muss, um die wissenschaftliche Legitimität dieser neuen Disziplin - der "Psychoanalyse" - nicht zu gefährden.

Freuds "Traumdeutung" ist die entstellte Reflexion darauf, dass das Wissen im Wünschen begründet ist. Im Zusammenhang seiner Sexualtheorie leitet Freud den "Wisstrieb" bekanntlich aus der infantilen Sexualneugierde ab. Wie radikal diese Ableitung zu verstehen ist, führt gleichsam traumhaft die "Traumdeutung" vor: Die Rückbindung der Wissenschaft an den "infantilen" Wunsch zu wissen, der sich nicht einfach unter die anderen lebenserhaltenden Funktionen einreihen lässt, sondern diese aus purer (sexueller) Lust (und mit gebührender Angst) überschreitet und auch stört - das ist ein wissenschaftlicher Skandal.

Der Gedanke an eine funktionslose Entstehung des Wissens ist für die Psychoanalyse von heute umso skandalöser, je mehr es ihr darum geht, ihre gesundheitspolitische, wissenschaftliche oder universitäre Funktionalität zu behaupten. Und je eindeutiger Wissenschaft sich dadurch auszeichnet, dass sie jene Fundierung in einem funktionslosen Wunsch von sich weist, desto unwissenschaftlicher muss natürlich die Psychoanalyse erscheinen.

Der Autor ist Psychoanalytiker in Zürich und Privatdozent an der Universität Bremen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung