Dzevad Karahasans Roman "Der nächtliche Rat" führt ins bosnische Foca, an einen Ort der Gewalt und der Massaker.
Gerade noch waren sie so nah, die Kriege am Balkan. An ihren Folgen leiden Überlebende, Hinterbliebene und das Miteinander von Nachbarn und Religionen heute noch. Hierzulande bringen sie nun, ein paar Jahre danach, nur ab und zu noch kurze Medienberichte in Erinnerung, wenn Angeklagte wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" in Den Haag vor Gericht stehen oder in Bosnien-Herzegowina als Kriegsverbrecher verurteilt werden, wie etwa Nedjo Samardzic. Am 7. April dieses Jahres wurde er für schuldig befunden, moslemische Frauen und Mädchen vergewaltigt, geschlagen und als Sexsklavinnen benutzt zu haben - diese Verbrechen hat er in den Jahren 1992 und 1993 in FocÇa begangen.
Schauplatz von Massakern
Die bosnische Stadt Foca am Oberlauf der Drina, jenem geschichts-, massaker-und symbolträchtigen Fluss, der sich bereits durch Ivo Andric und dessen Roman "Die Brücke über die Drina" in die Literaturgeschichte eingeschrieben hat, wird in den Jahren 1992-1995 zum Schauplatz von Vergewaltigungen und Hinrichtungen an moslemischen Bewohnern.
Dzevad Karahasans Roman spielt kurz vor dieser Zeit, er beginnt am 28. August, dem orthodoxen Maria Himmelfahrtstag des Jahres 1991, und signalisiert damit: Wir stehen kurz vor den Gräueltaten. Was der geschichtsbewusste Leser dann lesen könnte, sind Anzeichen für die später stattfindenden Massaker. Die (unausgesprochene, aber den Roman begleitende) Frage ist: Lassen sie sich verhindern? (Geschichtlich betrachtet: Hätten sie sich verhindern lassen?)
Die Anzeichen für Unheil kann jener, der im Mittelpunkt des Geschehens steht, zuerst nicht recht lesen, obwohl er sie wahrnimmt: unheimliches Hundegeheul, obwohl keine Hunde zu sehen sind, seltsamer Walnussgeruch, der ihn verfolgt, grausame Morde, die irgendetwas mit ihm zu tun haben, sein Anblick im Spiegel, der statt eines Gesichtes weißen Rauch zurückwirft ...
Doch zurück zum Anfang: der Arzt Simon Mihailovi´c ist vor 25 Jahren ins Ausland gegangen und kehrt nun in die Heimatstadt und ins Haus seiner Eltern zurück, die nicht mehr leben. Er glaubt, die Stadt und die Personen wieder zu erkennen, denn die Topografie ist vertraut, der Ort, die Häuser und die Menschen. Dennoch hat sich vieles verändert, nicht nur, weil alle älter geworden sind.
Mysteriöse Vorgänge
Die mysteriösen Vorgänge beginnen mit der Ermordung und Vergewaltigung einer Muslimin. Einer Frau aus jener Bevölkerungsgruppe, die nach der Gründung des Ersten Jugoslawiens als "Relikt der türkischen Okkupation" verachtet und wirtschaftlich ruiniert wurde. An diesem Ort, den sich Karahasan als Schauplatz seines Romans gewählt hat, haben vom 17. bis ins 20. Jahrhundert schon viele Massaker stattgefunden, etwa 1942, als Cetniks einen Massenmord an Muslimen begangen. Titos Jugoslawien verbot die Erinnerung an die Massaker. Um diese vergangenen Unheile und Opfer geht es aber, denn "es ist ganz unmöglich, daß etwas einfach spurlos verschwindet", auch die Toten sind noch da - und leiden.
Es sind bekannte literarische Motive, die Karahasan aufgreift, etwa das Haus, das Geschichte erzählt (und für Jugoslawien stehen könnte). Die eingeflochtenen Märchen, Legenden, Parabeln und Gleichnisse unterstreichen die Vielstimmigkeit des Textes, die vor allem durch die vielen Gespräche geschaffen wird, die in Gaststuben, auf dem Friedhof, in der Polizeiwachstube, in Träumen stattfinden.
Kleine Essays
Die Gespräche zwischen den Personen sind kleine Essays zur Lage Europas - und manchmal findet man sich an den vielstimmigen und geheimnisvollen Roman "Schnee" von Orhan Pamuk erinnert, der in die polyphone Situation der Türkei einführte. Karahasan lässt seine Figuren alle unzensuriert sprechen - unterbrochen, korrigiert oder befragt werden sie von ihren Gesprächspartnern: da gibt es welche, die ausschließlich an die Vernunft glauben, jene, die die Emotionen in der Politik angesprochen wissen wollen, jene, die das Wort "Volksseele" im Mund führen, und die, denen das sehr bedenklich erscheint. Zu Wort kommen Anhänger des serbischen Mannschaftsgedankens, aber eben auch Simon, der sich nicht vereinnahmen lassen will: "Ohne mich." Mit ihm kommt die Generation zu Wort, die froh ist, nichts getan und damit auch kein Blut an den Händen zu haben, aber auch jene, die gerade darunter leiden, nichts zu haben als "saubere Hände. Zuwenig für so viele Jahre auf der Welt."
Diese Gespräche an unterschiedlichsten Orten - und sei es der Traum - prägen den Roman, der damit Einseitigkeiten, gar Belehrungen vermeidet und den Leser auffordert mitzudenken. Denn die divergierenden Sichtweisen konkurrieren, sie korrigieren, aber sie ergänzen einander oft auch. Die Aufklärung braucht die Romantik, die Vernunft das Gefühl - und vice versa. Und das Leben braucht die Erinnerung an die Toten. Wie aber kann man weiterleben, wenn man von den geschehenen Gräueltaten weiß? Das fragt Enver Pilav, ein ebenfalls ermordeter Freund, der als Untoter bei Simon auftaucht und sich letztlich als Erzähler erweist.
Mythologie und Religion
Fragen über Fragen wirft dieser ebenso beeindruckende wie angenehm befremdliche Roman auf. Karahasan führt dabei Mythologie, Romantik, Psychoanalyse und Religionstraditionen zusammen.
Beim Versuch herauszufinden, wie es möglich sein könnte, die Kette der Gewalt als einzelner zu durchbrechen, spielen nicht von ungefähr auch biblische Überlieferungen - etwa auch die Frage nach der "Funktion" des Judas - eine Rolle.
"Man muß die Kette unterbrechen, man muß die Toten retten oder ihnen wenigstens das Leiden erleichtern. Dir zuliebe", schreibt Vater Simon am Ende an den Sohn und damit an die künftige Generation. Er weiß, was er zu tun hat: "Er würde zu ihnen gehen, um mit ihnen zu leiden, lebendig, aber fähig, zu empfinden und zu verstehen."
Karahasan reicht dem Leser in den letzten Kapiteln feine Anklänge an die Passionsgeschichte. Der Autor vergegenwärtigt unendliches Leid und grausame Folter an jungen und alten Menschen aus den unterschiedlichsten Zeiten, lässt Simon zur Ruhe kommen - und schließlich das Opfer auf sich nehmen. Am Ende wird Simons Frau in einem symbolischen Schöpfungsakt - geknetetes Laub -, und einer symbolischen Geburt den Roman mit dem hoffnungsvollen Satz schließen: "Die Welt ist wirklich eine Pflaume, eine schöne reife Pflaume!"
Der nächtliche Rat
Roman von Dzevad Karahasan
Aus d. Bosn. v. Katharina Wolf-Grießhaber. Insel Verlag, Frankfurt 2006
334 Seiten, geb., e 20,40
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