Wie wird man EUropäer?

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Zum Dossier. Brüssel, Synonym für die EU, ist nach fünf Jahren österreichischer Mitgliedschaft - neben den Farben anderer EU-Staaten - auch rot-weiß-rot geworden. Die Politiker in Kommission und Parlament sind bekannt. Weniger im Bewußtsein sind die Landsleute in den verschiedensten Gremien der Union. Über diese EU-Arbeiterinnen und Arbeiter handelt das Dossier. Zuerst aber grundsätzlich: Wie wird man eigentlich EUropäer?

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Zum Dossier. Brüssel, Synonym für die EU, ist nach fünf Jahren österreichischer Mitgliedschaft - neben den Farben anderer EU-Staaten - auch rot-weiß-rot geworden. Die Politiker in Kommission und Parlament sind bekannt. Weniger im Bewußtsein sind die Landsleute in den verschiedensten Gremien der Union. Über diese EU-Arbeiterinnen und Arbeiter handelt das Dossier. Zuerst aber grundsätzlich: Wie wird man eigentlich EUropäer?

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Wer lernfähig bleiben will, darf nie aufhören zu fragen. Eine äußerst aktuelle Frage - zweifelsohne aber eine Frage nicht ohne Schmerz - ist jene nach der Identität Österreichs und unserem Selbstverständnis im Umgang mit der dunkelsten Seite unserer Geschichte. "Wie wird man eigentlich Europäer?" könnte ein möglicher Ausgangspunkt auf der Suche nach dieser Identität sein. Den Beobachtungen des europäischen Erzählers Cees Nooteboom zufolge ist man Europäer nicht einfach durch Geburt, sondern durch harte Arbeit. Gemeint ist lebenslanges Lernen. Die Voraussetzungen für die dafür erforderliche Geisteshaltung gilt es in Österreich - aber nicht nur hier - erst größtenteils zu schaffen.

Identität trägt die harte Arbeit der Selbstreflexion in sich. Unsere Ansprüche an die Qualität der Auseinandersetzung mit allen, auch dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte können aber nicht hoch genug sein. "Stimmt die Richtung, in der wir uns von den fruchtbaren Erfahrungen von damals entfernen?" fragte ich anläßlich der Gedenkfeier im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen im Mai 1996. Österreich war damals gerade ein Jahr Mitglied der Union.

Die Richtung für Europa wurde mit der Gründung der EU vorgezeichnet. Motor für die in der europäischen Geschichte bis dato einmalige Art der Verständigung unterschiedlicher Völker, Kulturen und Identitäten unter einem gemeinsamen Dach war der Wille, den Nationalismus zu überwinden und so Krieg für alle Zeiten zu verhindern. Argumentationsversuche, die EU lediglich als Erfüllungshilfe rein kommerzieller Interessen darzustellen, gehen ins Leere. Vielmehr sind es die Grundfesten einer Wertegemeinschaft, die der Union Halt und Rückhalt geben. Die Identität Österreichs ist daher nur im Gleichklang eines europäischen Selbstverständnisses, basierend auf den Grundsätzen Freiheit, Demokratie, Solidarität, sowie Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu verstehen.

Die heutige EU samt ihrer sukzessiven Erweiterung muß weiterhin als "work in progress" gesehen werden. Dazu gehört neben den integrationspolitischen Aufgaben, auch eine spezifische Anforderung an jeden einzelnen von uns: Die Erkenntnis welches Privileg es bedeutet, in diesem gemeinsamen europäischen Haus leben und daran mitarbeiten zu dürfen.

Zweifelsohne, Europa wäre ohne den vielschichtigen Beitrag Österreichs nicht das, was es ist. Die Geschichte Österreichs ist zugleich auch die Geschichte Europas. Unsere doppelte Identität, unser Österreichersein und gleichzeitig Europäersein, fordern uns einmal mehr dazu heraus, eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Geschichte und somit der Zukunft zu betreiben. Eine harte Arbeit, die wir mit Sensibilität, Offenheit und Demut so schnell wie möglich in Angriff nehmen müssen.

Wenn Leon Zelman sagt, ein Teil Österreichs will bis heute nicht begreifen, daß es immer noch an seinem Umgang mit den Schattenseiten seiner Vergangenheit gemessen wird, so muß ich ihm recht geben. In der Heimat Freuds wurde und wird vieles verdrängt, befördert von der Opferthese der Alliierten und einer sehr österreichischen Neigung zum Pragmatismus. Wir können uns aber nicht nur durch den Hinterausgang der Geschichte aus der Verantwortung stehlen. So bricht heute auf, was über Jahrzehnte nicht verarbeitet wurde, auch weil es schmerzhaft ist, immer wieder von Neuem mit dem Unsäglichen konfrontiert zu werden.

Es wird vielfach als ungerecht empfunden, daß wir Österreicher uns noch heute mit dem Unrecht des Holocaust, der Zwangsarbeiter und der Arisierungen auseinandersetzen müssen, und das Ausland nicht mit gleichem Maße mißt. Passieren nicht auch woanders schauderhafte Dinge, sprengen nicht Terroristen woanders Menschen in die Luft, betreiben nicht woanders Politiker Ausländerhetze, paradieren nicht woanders Neonazis in den Straßen, werden nicht woanders Ausländer aus Dörfern gejagt und anrüchige Parteien an Regierungen beteiligt? Natürlich, aber dieser unbeholfene Versuch der Relativierung ändert nichts an unserer Verantwortung.

Wir müssen eine Bannmeile zwischen Vergessen und Erinnern legen. Die Vermittlung historischer Tatsachen zu den Jahren der europäischen Katastrophe mitsamt der Warnung vor brutaler Arroganz und zerstörerischer Blindheit des rassistischen Regimes muß weiterhin einen zentralen Stellenwert in unserer Gesellschaft einnehmen. Auch die Unterscheidung zwischem gesundem Patriotismus und seinem häßlichen Bruder, dem zerstörerischen Nationalismus, darf in dieser Lektion nicht fehlen.

Es ist Teil der Verantwortung aller Europäer dazu beizutragen, daß an einer gemeinsamen Dialogkultur gearbeitet wird, denn wir können weder Ausgrenzungen noch das Wegdriften eines der Mitgliedsländer zulassen. Die Achtung von Grundwerten wie Toleranz, Solidarität oder die Menschenrechte muß daher für jeden in Europa selbstverständlich sein. Sprache ist immer Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung. Ihr muß dieselbe Sensibilität wie im Umgang mit nationaler Identität und mit der Vergangenheit gelten. Es geht nicht an, aus opportunistischem Populismus heraus einen zynischen Umgang mit historisch problematischen Begrifflichkeiten an den Tag zu legen. Auch hier ist neuer Stil notwendig.

Für die Gegenwart und Zukunft Österreichs muß sich dieser Weitblick in der unterstützenden Haltung zu einem der wichtigsten Vorhaben der EU beweisen. Die Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Länder ist ein Projekt, das uns die Chance gibt, unsere kulturelle Nähe und historische Verbundenheit zu den Kandidatenländern integrativ zu nutzen.

Wenn wir sichergehen wollen, daß unsere Kinder die Botschaft der Europäischen Union verstanden haben, müssen wir ihnen unser Land als Ausgangspunkt und Plattform für demokratisches Verständnis und Menschlichkeit anbieten. Dann stimmt die Richtung, dafür lohnt sich die harte Arbeit auf dem Weg zur Europäischen Identität.

Der Autor ist EU-Kommissar für Landwirtschaft, Entwicklung des ländlichen Raums und Fischerei.

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