Wie zu Zeiten der Militärdiktatur

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Der Demokratisierungsprozess in Brasilien hat seinen Höhepunkt mittlerweile offenbar überschritten

die furche: Sie sind 1988 nach Brasilien gegangen, um dort am Aufbau einer Pfarre mitzuwirken. Damit gerieten sie in ein Umfeld, das durch eine für europäische Verhältnisse unvorstellbare Gewalttätigkeit gekennzeichnet war. Worin sehen Sie die Gründe für diese Gewalttätigkeit?

Günther Zgubic: Das hat damit zu tun, dass São Paulo das wirtschaftliche Zentrum Brasiliens ist. Es ist auch der Mittelpunkt für anderes: Für alles, was Bildung, Sozialwesen, Basisbewegungen anbelangt, ist die Stadt die Drehscheibe Brasiliens - und das im Guten wie im Schlechten.

die furche: Wodurch ist dieses Chaos denn entstanden?

Zgubic: Einer der Hauptgründe: Ein ungleichgewichtiges Entwicklungskonzept für Brasilien. Unter der Militärdiktatur wurde das so genannte moderne Brasilien besonders vorangetrieben: In wenigen Städten sollten Bevölkerungsmassen leben. Dazu kam die Hungersnot im Nordosten: Von 1978 bis 1983 hat es dort nicht geregnet. In dieser Zeit ist São Paulo um sieben Millionen Menschen gewachsen! Einen solchen Zustrom von Menschen in so kurzer Zeit halbwegs geordnet zu bewältigen, würde auch die beste Regierung nicht schaffen. Dieser ungeheuren sozialen Herausforderung musste sich übrigens auch die Kirche stellen.

die furche: Und wie hat sie auf diese Bevölkerungsexplosion im städtischen Raum reagiert?

Zgubic: Sie war zunächst auf eine relativ gesunde Gesellschaftsstruktur, wie sie im Süden Brasiliens existiert, eingestellt. Dort wird niemand getauft, wenn sich die Eltern nicht entsprechend vorbereiten oder am religiösen Leben einer Straßengruppe teilnehmen. Im übrigen Brasilien jedoch, wo die Masse der Menschen lebt, läuft das alles, wie gesagt, nicht so geordnet ab. Die traditionelle Kirchenstruktur mit einer Mutterkirche, einem Pfarramt, einer bürokratischen Administration konnte nicht angemessen auf diese Unordnung der Städte übertragen werden. Es fehlte einfach an Mitteln Kirchen, Kindergärten, soziale Dienste für diese Millionen von Menschen aufzubauen. Die Leute würden auch nicht zur bestehenden Kirchenstruktur ins Stadtzentrum kommen. So mussten wir also zu den Menschen gehen, wenn wir sie nicht allein lassen wollten. Auf diese Weise entstand in São Paulo eine Antwort auf die Herausforderung der explodierenden Städte: die Basisbewegungen.

die furche: Was haben Sie vorgefunden, als sie in ihr neues Pfarrgebiet kamen?

Zgubic: Es war ein Zusiedlergebiet, in dem viele Bodenbesetzungen stattfanden. Dort hatten sich Menschen organisiert, damit sie ihre Zukunft nicht nur in Slums verbringen. Sie wollten würdiger leben, haben Land besetzt und dann in organisierter Form mit dem sozialen Wohnungsfonds verhandelt. Das Ziel war mit öffentlichen Mitteln in Gemeinschaftsbauweise Häuser zu errichten: 44 Quadratmeter pro Familie sollte es geben. Mittlerweile sind es bis zu fünfstöckige Häuser, die von diesen Wohnungsbewegungen errichtet werden. In diesem Stadtteil, Campo Limpo, haben wir übrigens im Zusammenwirken mit der Basisbewegung ein Menschenrechtszentrum eingerichtet. Dieses ist mittlerweile das effektivste in ganz São Paulo, denn dort werden wichtige Fragen wie die Polizeireform, Ansätze zu Friede und Versöhnung im Stadtbereich bearbeitet. Hierher kommen sogar Staatssekretäre. Von da gingen auch Initiativen aus, die das kirchliche Sozialengagement und Basisbewegungen vernetzten. Letztere sind übrigens zu 80 Prozent aus kirchlichen Gemeinden geboren worden. Seit Ende der Militärdiktatur sind sie autonom geworden.

die furche: Haben diese Bewegungen zu einer Stabilisierung der Lage, zur Herstellung von Ordnung und zu einer sinkenden Gewalttätigkeit geführt?

Zgubic: Ich würde es so formulieren: Gäbe es diese Basisbewegungen für Solidarität nicht, wäre die Gewalt noch wesentlich ärger. Gelungen ist uns aber inzwischen, diese Tausende von Familien gesellschaftlich artikulationsfähig zu machen. Es gibt Solidaritätsstrukturen. Die erste Frucht war die erste wirklich unabhängige, nicht von oben gesteuerte Gewerkschaftsbewegung, "Cut". Sie hat sich brasilienweit artikuliert. Das Zweite war die Gründung und die Entwicklung der PT, der Arbeiterpartei. Sie stellt inzwischen meist in Koalition mit Linksparteien in vielen Städten den Bürgermeister - was nicht unbedeutend ist, wenn man bedenkt, dass 80 Prozent der Brasilianer in Städten leben. Diese Partei, die bisher als kommunistisch und revolutionär abgestempelt wurde, ist übrigens inzwischen zu jener geworden, zu der sich besonders auch der Mittelstand und die organisierten Armen bekennen. Die Masse der Analphabeten wählt hingegen eher die Rechtsparteien, die irgendwie in der Tradition der Militärdiktatur stehen. Diese Rechtsparteien stellten übrigens in den neunziger Jahren in São Paulo den Bürgermeister.

die furche: Wie steht es mit der Arbeitslosigkeit?

Zgubic: Der rechtsorientierte Bürgermeister von São Paulo hat dort in den sechs Jahren seiner Tätigkeit alles, was er konnte, privatisiert. Und er hat auch alles unternommen, um die Basisorganisation auszulöschen: Keine Geldmittel mehr für die Wohnungsbewegung heißt Tausende unfertige Häuser und ein entmutigtes Volk. Diese Privatisierungen führten zu einschneidenden Maßnahmen der Rationalisierung und damit zu enormer Arbeitslosigkeit. All das hat in Brasilien die Landlosenbewegung ausgelöst. Sie ist also ein Kind des Neoliberalismus und umfasst die unzähligen Verzweifelten, die überhaupt nichts mehr haben.

die furche: Ist diese Bewegung verantwortlich für die Gewalttätigkeit von der Sie sprachen?

Zgubic: Nein, im Gegenteil, sie artikuliert sich in großartiger Weise. 1997 sind zahlreiche Gruppen dieser Menschen Wochen hindurch in die Städte marschiert, 30.000 bis 60.000 Menschen. Sie waren ein Monat lang unterwegs, um die Bevölkerung auf ihre Lage aufmerksam zu machen.

die furche: Und wofür haben sie geworben?

Zgubic: Für eine Landreform. Das Gesetz sagt jedem Brasilianer, der von der Arbeit am Land leben will, ein Stück Land zum Bebauen zu.

die furche: Und welchen Erfolg hatten diese Märsche?

Zgubic: Der größte Erfolg ist wohl, dass es überhaupt noch eine Artikulationsmöglichkeit dieser Ärmsten gibt und damit eine gesellschaftliche Kraft, die die Regierung unter Druck setzt. Wenn der Papst oder die Bischofskonferenz die Regierung ermahnen, dann können sie sich immer auf diese Bewegung beziehen.

die furche: Und zeigt sich die Regierung von dieser Bewegung beeindruckt? Wie reagiert sie?

Zgubic: Von Mal zu Mal brutaler. Sie will diese landesweit verbreitete Bewegung ausrotten und berücksichtigt alle anderen Forderungen eher als jene dieser Landlosenbewegung. Dabei hat die jetzige Regierung alle UNO-Menschenrechtsabkommen unterschrieben. Das hat ihr international großes Ansehen gebracht. Alles hoffte von da an auf sozialpolitische Veränderungen. Und für Brasilien selbst hatte es den Vorteil, dass sozialpolitische Forderungen sich von da an auf diese internationalen Zusagen berufen konnten.

die furche: Sie sagten aber, dass die Regierung sich nicht entsprechend verhält, sondern zunehmend zu harten Maßnahmen greift...

Zgubic: Formal ist Brasilien ein Menschenrechtsstaat geworden ist. Nur in der Praxis werden die Gesetze nicht angewandt. Es gibt keine Durchführungsbestimmungen. Und so ist Brasilien im internationalen Vergleich der Staat mit der schlechtesten Güterverteilung, obwohl es wahrscheinlich das Land mit den reichsten natürlichen Ressourcen ist. Und noch etwas: Brasilien braucht dringend eine Strafgesetz-, eine Justiz-, eine Polizei- und Gefängnisreform. Denn wer heute der Regierung unangenehm wird, kann einer Verfolgung ausgesetzt werden, die der Justizmentalität entspricht, die unter der Militärdiktatur geherrscht hat.

die furche: Können Sie diese Behauptung an Beispielen illustrieren?

Zgubic: Ich erzähle Ihnen, was im Vorjahr, am 2. Mai passiert ist. Damals waren Bodenbesetzungen in vielen Teilen des Landes angekündigt gewesen. Und so kam in Parana eine Gruppe von Menschen in Bussen, um ein Grundstück zu besetzen. Eine Sondereinheit der Polizei war schon zur Stelle, als die Busse ankamen und forderte die Menschen auf, in die Fahrzeuge zurückzukehren. Als sich die Leute weigerten, begann die Polizei zu schießen - nicht nur mit Tränengas. Es gab viele Verletzte, ja Schwerverletzte und sogar ein Todesopfer. Die Polizei-Verantwortlichen gaben an, sie seien angegriffen worden. Und dabei zeigen Filme eindeutig, dass sich dieser Vorfall wie eine Hasenjagd abgespielt hat. Dennoch hat der brasilianische Präsident im Anschluss an den Zusammenstoß erklärt, dieser Todesfall sei eine Vorwarnung an die Landlosenbewegung.

Aufgrund dieses Vorfalls haben wir dann eine Plattform in São Paulo gegründet. An ihr hat sich auch die Gewerkschaft der Rechtsanwälte beteiligt, damit die Betroffenen auch eine geeignete Verteidigung haben. Alte Rechtsanwälte, die noch die Praxis unter der Militärdiktatur kannten, haben uns da aufgrund ihrer Erfahrungen erklärt, dass sich die Dinge heute immer noch so abspielen, wie damals zu Zeiten der Militärdiktatur. Die jetzige Regierung habe offensichtlich den Höhepunkt der Demokratisierung, die sie zugelassen hatte, bereits überschritten.

Das Gespräch führte Christof Gaspari.

Zur Person

In Österreich geboren und 1975 zum Priester geweiht, wirkt Günther Zgubic seit 1988 als Seelsorger in der Erzdiözese São Paulo in Brasilien. Bis Ende 1994 war er dort als Pfarrer am Aufbau der Gemeinde Capao Redondo/Jardim Angela, Campo Limpo beteiligt. Von 1995 bis 1997 teilte er das Leben Obdachloser in São Paulo und widmete sich der Betreuung Aids-Kranker und Prostituierter. Seit 1997 ist er Gefängnisseelsorger in São Paulo (siehe dazu furche 31/2001).

Im Rahmen seiner Tätigkeit ist er laufend mit dem Elend der Massen von Entwurzelten und deren Bemühungen um Integration in die Gesellschaft konfrontiert. Im folgenden Gespräch geht es daher insbesondere um die Landlosen- und andere Basisbewegungen in Brasilien.

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