Wiedergeburt Europas

Werbung
Werbung
Werbung

Furche Nr. 28/12. Juli 1969

Edmond Giscard d'Estaing, rechtsliberaler Politiker und Vater des damaligen französischen Europaministers, späteren Präsidenten und nachmaligen EU-Verfassungskonventsvorsitzenden Valery Giscard d'Estaing, über Europas Einigung aus dem Blick von 1969:

Der Aufbau Europas ist derzeit in einer Sackgasse und ernstlich in Frage gestellt. Um es offen zu sagen, ich zögere das Wort "Aufbau" Europas zu gebrauchen, da es scheinen könnte, daß es sich um ein künstliches Unternehmen handelt, das durch menschlichen Willen bestimmt wird und nicht durch die unwiderstehliche Kraft der Tatsachen, der sich Menschen nur zu oft entgegensetzen. Stellen wir einmal ganz allgemein und klar fest, daß die Einigung Europas gebremst, wenn nicht gar gestört ist.

Außerdem ist das Wort "europäische Vereinigung" in sich selbst doppelsinnig. Es handelt sich hier nicht um die Wahl zwischen einer Föderation, Konföderation oder einer noch engeren Vereinigung. Sagen wir, daß "das Europa", unter welcher Form auch immer wir uns seine Zukunft vorstellen, im Entstehen begriffen ist und diese Entstehung jetzt gelähmt ist. Einige sind entmutigt, was auch verständlich ist, und viele fragen sich, ob man noch weiter von diesem herrlichen Ideal sprechen soll, oder ob diese Zukunft Europas nicht einer Prellerei gleichkommt. Angesichts der Spärlichkeit der Taten, der Schwäche der Verwirklichungen und des bösen Willens gewisser Menschen, zögert man, von Europa zu sprechen und zweifelt am Nutzen derartiger Gespräche - für mich hingegen sind sie nützlich. [...]

Wenn man im Grunde seines Herzens, so wie wir, überzeugt ist, daß die Arbeit an Europas Einigung essentiell ist, so darf keine Anstrengung vernachlässigt werden. [...]

Die erste dieser Grundideen ist, daß die Einigung Europas eine unausweichliche, historische Entwicklung darstellt, und ergänzend, daß sie auch wünschenswert ist. Verstehen wir uns richtig: es ist eitel, sich einer großen geschichtlichen Strömung entgegenzustellen, es ist aber feig, sie nur zu erdulden. [...]

Die zweite Idee ist wirtschaftlicher Natur. Die Welt wird durch mächtige Strömungen beherrscht, die den Handelsaustausch entwickeln wollen, der immer notwendiger wird. Die Zollgrenzen erscheinen daher in einigen Beziehungen als Anachronismen. [...]

Die dritte Grundidee bezieht sich auf die territorialen Grenzen Europas. Wir müssen uns über diesen Gegenstand ganz klar werden. Das zukünftige Europa wird aus allen Ländern Westeuropas gebildet werden, und es darf kein Unterschied zwischen ihnen bestehen außer in bezug auf die Schwierigkeiten, die einige davon haben werden, an diesem gemeinsamen Werk der Vereinheitlichung teilzunehmen. [...]

[...] Wir müssen überzeugt sein, daß das sich bildende Europa ein vollkommen solidarisches Westeuropa sein muß, das ebenso Frankreich, Italien, Deutschland wie auch Großbritannien, Dänemark, Schweden, Finnland, Österreich und die Schweiz umfaßt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung