In ihrer ersten Halbzeit hat die rot-grüne Stadtregierung in Wien vor allem Verkehrslärm gemacht. Wo macht sich die erste Linkskoalition Österreichs sonst noch bemerkbar?
Gerti Pieber ist Zuwanderin in Wien. "Auch ich bin eine zugezogene Südländerin“, sagt die Steirerin von sich selbst. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt die Lehrerin im 10. Bezirk. Heute widmet sie sich dort dem interkulturellen Dialog. Regelmäßig trifft sie sich mit anderen Favoritnerinnen, die alle aus unterschiedlichen Kulturen stammen, um gemeinsam etwas zu tun. Zuletzt hat die Frauengruppe im Arthaberpark einen internationalen Kräutergarten angelegt.
Vor etwa einem Jahr stand das Favoritner Frauentreffen unter einem besonderen Schwerpunkt: Zwei Mediatoren, vom Rathaus geschickt, waren dabei, und führten die Nachbarinnen durch ein sehr persönliches Gespräch. "Was ist Ihnen wichtig?“, fragten sie. "Was macht Ihnen Angst?“ Obwohl Gerti Pieber sich regelmäßig mit ihrer Umgebung austauscht, fand sie den Anstoß von außen wichtig. "Durch den Fokus auf die Frage, wie wir zusammen leben können, wurde uns klar: Die Unterschiede sind das eine. Aber die Grundfragen sind in allen Kulturen dieselben.“
Koalitionsbaustelle Parkpickerl
Das moderierte Gespräch in Piebers Frauengruppe war eines von rund 650, aus denen schlussendlich die "Wiener Charta“ entstand. Dieser Leitfaden für das Zusammenleben in der Stadt, von Bürgern selbst gestaltet, soll die Wertehaltung der Bevölkerung abbilden und Handlungsanleitung für die Politik sein. Der Anstoß dafür ging von eben jener aus: Die "Wiener Charta“ war eines der ersten Projekte, das die rot-grüne Stadtregierung nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen im November 2010 präsentierte. Exakt war die Charta fertig.
"Man kann ihnen nicht vorwerfen, ihr Programm nicht durchzuziehen“, meint der Politikforscher Peter Filzmaier über die Regierung, die vom ersten Tag an unter besonderer Beobachtung stand - weil sie die erste rot-grüne Koalition überhaupt in Österreich ist. Eine Linksregierung wird die Stadt moderner, sozialer, liberaler machen, jubelten Befürworter damals. Kritiker warnten vor einer wirtschaftspolitischen Katastrophe, Heinz-Christian Strache sprach sogar von einem "Horror-Experiment“.
Heute, rund zweieinhalb Jahre nach der politischen Premiere, ist der erste Akt geschlagen. Der war - zumindest für das Publikum - ziemlich verkehrslastig: Erst wurde um verbilligte Öffi-Tickets gerungen, dann der äußere Ring-Radweg in Angriff genommen, 2013 wurde zum Radjahr erklärt. Die Erweiterung der Parkpickerlzone wurde zur koalitionären Baustelle. Und sorgte dafür, dass SPÖ-Verkehrssprecher Karlheinz Mora das Handtuch warf.
"40 Prozent der Wiener fühlen sich vom Parkpickerl betroffen, in der überwiegenden Mehrheit negativ“, kritisiert auch ÖAMTC-Sprecher Bernhard Wiesinger: "Jede Abstimmung zum Parkpickerl mit einer ehrlichen Ja/Nein-Frage würde die Stadt verlieren.“ Auch in der Wirtschaftskammer ist man unglücklich über Parkraumbewirtschaftung und Gebührenerhöhungen, die die Wiener Wirtschaft in Summe 100 Millionen Euro mehr pro Jahr kosten: "Eine Politik, die die Anliegen der Wirtschaft berücksichtigt, ist das nicht“, heißt es dort. "In Wien wird bewusst gegen die Mehrheit regiert,“ meint Wiesinger: "Die SPÖ denkt ans Budget und die Grünen machen Klientelpolitik“.
Gegen diesen Vorwurf wehrt sich der Grüne Klubobmann David Ellensohn vehement: "Wem hilft es denn, dass wir den Gratis-Kindergarten verteidigen oder die Kinder-Mindestsicherung erhöht haben? Bestimmt nicht nur der klassischen grünen Zielgruppe.“
Tempo bei Sozialpolitik
Tatsächlich hat die Stadtregierung im Schatten des Verkehrslärms gesundheits- und sozialpolitisch einiges vorangetrieben: Schnell einigte man sich auf ein Spitalskonzept, das bis 2030 umgesetzt werden soll. Wien zahlt von allen Bundesländern die höchste Mindestsicherung für Kinder aus und über-erfüllt die Asylquote seit Jahren als einziges. Das Pflege- und Betreuungsangebot für ältere Menschen wird konsequent ausgebaut. "Das ist ein Thema, bei dem unsere Parteien schon immer auf einer Linie gewesen sind“, meint SPÖ-Gemeinderätin Gabriele Mörk. "Außerdem haben wir zwei Winter hinter uns, in denen auf Wiens Straßen niemand erfroren ist“, ergänzt David Ellensohn.
Auch in der Caritas Wien bemerkt man, dass sich in der Wohnungslosenhilfe einiges getan hat: "Es steht mittlerweile im Winter außer Streit, dass nicht nach dem Pass gefragt wird, wenn ein Obdachloser Versorgung braucht“, erklärt Generalsekretär Klaus Schwertner, der aber auch Verbesserungsbedarf ortet: "Besonders bei der Versorgung von jungen Wohnungslosen, psychisch Kranken und den Übergängen zwischen Gesundheits- und Sozialsystem.“
Beim Bereich Integration - eigentlich Schlüsselthema einer urbanen Linkskoalition - ortet Integrationshaus-Geschäftsführerin Andrea Eraslan-Weninger gute Initiativen etwa bei flächendeckenden Ausbildungsprojekten für junge Migranten. Viel mehr getan werden müsste allerdings beim Sprach- und Bildungsangebot für Erwachsene. Dringenden Handlungsbedarf sieht Eraslan-Weninger auch beim Wahlrecht: "22 Prozent der Menschen, die in Wien leben, sind von der demokratischen Beteiligung ausgeschlossen. Dieses Thema ist zu wichtig, als dass es momentan so ruhig darum ist.“
Grober Schönheitsfehler
Dabei sollte Wien eigentlich schon längst ein neues Wahlrecht haben, das auch EU-Bürgern oder sogar Drittstaatenangehörigen die Möglichkeit geben soll, bei Landtagswahlen mitzustimmen. Und vor allem dafür sorgt, dass die Mandatsverteilung im Gemeinderat möglichst genau dem prozentuellen Stimmenanteil entspricht. Das derzeitige Wahlrecht verzerrt diese Verhältnisse nämlich und ermöglichte der SPÖ nach den Wahlen 2001 und 2005 absolut zu regieren, obwohl sie weit weniger als 50 Prozent der Stimmen erhielten. Deshalb unterzeichneten im Mai 2010 FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, die damalige ÖVP-Chefin Christine Marek und grüne Klubobfrau Maria Vassilakou feierlich eine notariell beglaubigte Verpflichtungserklärung, dass sie, falls einer von ihnen nach der bevorstehenden Wahl in Koalition mit der SPÖ gehen sollte, eine Wahlrechtsreform verwirklichen möchten. Die Einführung eines "modernen Wahlrechts“ fand nach der Wahl zwar Eingang ins Regierungsübereinkommen. Was man darunter versteht, ist allerdings bis heute nicht geklärt. Die Wahlrechtsreform, die bis "spätestens“ Ende 2012 versprochen wurde, ist immer noch ausständig.
Für Politikforscher Peter Filzmaier ein "grober Schönheitsfehler“, ebenso wie die eben abgehaltene Volksbefragung, die "an Pflanzerei des Wählers grenzt.“ Kritisiert wurden die Fragen teils übrigens auch partei- und koalitionsintern - Konflikte nach außen zu kommunizieren wurde aber tunlichst vermieden. "Darin unterscheidet sich die Wiener Regierung deutlich von der Bundesregierung“, analysiert Filzmaier. Das mag am klaren Größenunterschied zwischen Juniorpartner und Bürgermeisterpartei liegen. Oder aber an der "Wiener Charta“. Schließlich heißt es darin: "Wir akzeptieren verschiedene Bedürfnisse und suchen daher gemeinsame Lösungen und tragfähige Kompromisse.“ Und die Charta gilt schließlich auch für die Regierung.
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