"Wir haben erst den halben Weg …“

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Teil 5 der FURCHE-Serie "Die zweite Wende“: Die rumänische Politikwissenschaftlerin Sandra Pralong, zurzeit tätig beim UN-Bevölkerungsfonds UNFPA, über die fehlende "moralische Revolution“, die langfristigen und nachhaltigen Verheerungen des Kommunismus und die Notwendigkeit fortschreitender europäischer Integration. Die Fragen stellte Rudolf Mitlöhner

Als größte Errungenschaft ihres Heimatlandes Rumänien bezeichnet Sandra Pralong den EU- und NATO-Beitritt, als größte Herausforderung sich dessen würdig zu erweisen …

Die Furche: Vor mehr als zwanzig Jahren fand der große Umbruch, die "Wende“ in Mittel- und Osteuropa statt. Würden Sie der Einschätzung zustimmen, dass heute eine "zweite Wende“ im Hinblick auf Marktwirtschaft, Rechtsstaat, civil society notwendig ist?

Sandra Pralong: Beim Fall der Berliner Mauer dachte jeder, dass zwei Revolutionen ausreichen würden um den Wandel in Osteuropa voranzubringen; dass also die politische und ökonomische Transformation die Gesellschaften vom Kommunismus befreien und dauerhaft Demokratie und Marktwirtschaft etablieren würde. Aber ich glaube, wir haben etwas vergessen: So lange die wichtigste Revolution - die moralische - nicht Teil des Gesamtbildes ist, sind die anderen beiden zu fragil, um auf lange Sicht fortzuwirken. Mit "moralischer Revolution“ meine ich, die Attitüde aufzugeben, dass der Zweck die Mittel heiligt, was typisch ist für kommunistische Gesellschaften; und sich hinzubewegen zu einer Prozessethik, wie das in rechtsstaatlich geprägten Gesellschaften der Fall ist. Ja, in diesem Sinne ist höchstwahrscheinlich eine "zweite Wende“ nötig. Aber dieser Wandel kann nicht so schlagartig kommen wie der "erste“. Von einem Tag auf den anderen kann man wohl ein Mehrparteiensystem imitieren oder so tun, als ob der Markt das wirtschaftliche Leben regeln würde, aber wenn es keinen gemeinsamen Ethikkodex gibt, basierend auf Treu und Glauben, mit Ehrenhaftigkeit und Integrität als benchmarks sowohl für das öffentliche als auch das private Leben, dann ist das alles nur Theater.

Die Furche: Man kann nicht generell über "die postkommunistischen Länder“ sprechen. Was würden Sie als die Spezifika Ihres Landes, Rumänien, herausstreichen? Was sind die wichtigsten Errungenschaften, was die entscheidenden Herausforderungen?

Pralong: Sie haben recht, jedes Land ist anders - aber auch jede Gemeinschaft und jede Person. Aber wir können allgemein beispielsweise sagen, dass die eigenbrötlerischen Rumänen versuchen, Jahrzehnte der Unterdrückung und Entbehrung aufzuholen und begeistert die Freiheitsexzesse und die Fallen des Konsumismus begrüßen, vielleicht mehr als in anderen Ländern. Das spiegelt sich etwa in der Wirtschaft wider, wo wir primär ein konsumgestütztes Wachstum beobachten, oder in der Politik, wo es mehr Korruption und Straflosigkeit gibt als wir ertragen können. Die größte Errungenschaft? Dass es gelungen ist entgegen aller Wahrscheinlichkeit der EU und der NATO beizutreten. Die größte Herausforderung? Sich dieser Mitgliedschaften würdig zu erweisen … Die zweite Schlüssel-Herausforderung ist, Wachstum und Modernisierung zu schaffen, ohne das Spezifische von Rumänien zu zerstören - beispielsweise die natürliche Schönheit des Landes. Die Rumänen sind wunderbare, lebensfrohe Menschen, die Kombination von romanischer und orthodoxer Tradition ergibt einen unwiderstehlichen Mix von Leichtigkeit und Tiefe. Ich hoffe nur, dass wir bald unsere Dinge auf die Reihe kriegen, um der Welt zu zeigen, was wir können.

Die Furche: Oft ist die Rede von den vielen Enttäuschungen, die es seit 1989 gegeben hat. Die Menschen, so heißt es, hätten sich den Weg zu Freiheit und Demokratie viel einfacher vorgestellt. Stimmt das - und wenn ja, was ist da schief gelaufen?

Pralong: Wenn man von einem diktatorischen Regime eingesperrt ist, entwickelt man bestimmte Eigenschaften, die einen fähig machen in dieser Umgebung zu überleben - und zwangsläufig unfähig für ein Leben in anderen Konstellationen. Man lernt beispielsweise, dass Macht vor Recht geht, der Zweck die Mittel heiligt und Dialog Zeitverschwendung ist. Nun, um erfolgreich in einer Demokratie zu bestehen, müssen sich die Leute all das abgewöhnen, was ihnen in der Vergangenheit geholfen hat und sich neue Fähigkeiten aneignen, für die es keinen anderen Lehrer gibt als das Leben selbst. Denn wie sonst soll man lernen, dass aus Freiheit Verantwortung folgt, außer indem man die Auswüchse der eigenen Liederlichkeit erkennt und das eigene Verhalten entsprechend verändert? Nichts ist schief gelaufen, aber das System ändert sich langsamer, als wir uns das wünschen würden; denn der Kommunismus war kein deus ex machina, der spurlos wieder verschwindet. Er war in unserem Inneren tief eingewurzelt. Er durchdrang unser ganzes Sein und verformte unsere Haltungen und unsere Gemütslage. Und der Wandel geht langsam voran - es wird genauso lange dauern, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg gedauert hat, aus dynamischen Gesellschaften Sklaven der Ideologie zu machen. Wir haben, wie es scheint, erst den halben Weg hinter uns …

Die Furche: Glauben Sie, dass - als Konsequenz der Desillusionierung - Nationalismus und (rechter) Populismus stärker werden? Kann Ungarn ein Role model für die anderen postkommunistischen Länder werden? Oder brauchen wir uns wegen Ungarn nicht zu sorgen und ist das alles nur linke Hysterie?

Pralong: Ich mache mir Sorgen wegen Ungarn, weil es zeigt, dass die Demokratie an ihre Grenzen stößt, wenn sie autoritäre Figuren hervorbringt, die sich die Welt nach ihrem Bild herrichten wollen. Wir hatten andere Beispiele in der Geschichte für die Machtlosigkeit des gesunden Menschenverstandes gegenüber Macht und Ehrgeiz. In solchen Fällen spielen die Kategorien von Links und Rechts keine Rolle mehr, hier geht es um andere Unterscheidungen wie Kontrollzwang versus Dialog, Macht versus Verantwortung - kurz: hier geht es eher um Werte als um Ideologie.

Die Furche: Der bulgarische Politologe Ivan Krastev sagte in einem Interview mit der FURCHE (Nr. 18/11), der Graben zwischen Nord und Süd in der EU sei weitaus bedeutender als jener zwischen Ost und West. Stimmen Sie dem zu?

Pralong: Tatsächlich formt die protestantische Ethik Haltungen und Institutionen in fundamentaler Weise - so gesehen hat Krastev recht. Wie er auch recht hat, dass die Ost-West-Spaltung nur eine Frage der Zeit ist - der Osten wird letztendlich aufholen. Denn vom Osten wird das Wachstum ausgehen, wenn sich der Staub der Krise gelegt hat, also in wenigen Jahren. Solches Wachstum wird ganz Europa zugutekommen, wenn es bis dahin so vernünftig ist, seinen Zusammenhalt zu bewahren. Aber ich bin besorgt, dass wir sukzessive uns selbst unserer Möglichkeiten begeben, die Krise ernsthaft zu lösen. Europa braucht ein gemeinsames Fiskalregime, koordinierte Institutionen, es braucht die Integration zu einem Bundesstaat. Solange wir zu diesen Schritten nicht bereit sind, wird der Graben zwischen Nord und Süd ebenso wie jener zwischen Ost und West die Quelle latenter Konflikte sein.

Die Serie "Die zweite Wende“ erscheint in Kooperation mit der Erste Group.

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