„Wir hätten alles von den Deutschen haben können“

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István Horváth war in den Wendemonaten 1989 und danach Botschafter Ungarns in Bonn und verhandelte damals über die Öffnung der Grenze für DDR-Flüchtlinge. Heute ist Horváth Botschafter in Wien.

Die Furche: Die Rolle Ungarns bei der Revolution 1989 scheint unterschätzt. Etwa die Konsequenzen der Ausreiseerlaubnis für DDR-Bürger für den Fall der Berliner Mauer.

István Horváth: Nicht nur das. Ungarn hat meiner Überzeugung nach die Welt des Kalten Krieges ins Wanken gebracht und zum Sturz des Kommunismus erheblich beigetragen. Tatsächlich gibt es viele, die sich heute die Lorbeeren dafür umhängen wollen. Es ging aber damals nicht nur um die DDR.

Die Furche: Ungarn hat auch als erstes Land den Eisernen Vorhang abgetragen.

Horváth: Das war schon im Mai 1989, lange übrigens bevor das berühmte Foto mit den Außenministern Mock und Guyla Horn gemacht wurde. Dazu mussten wir ja 20 Meter des Zaunes eigens wieder aufbauen.

Die Furche: War damals klar, dass sich die Sowjetunion unter Gorbatschow alles gefallen lassen würde.

Horváth: Den Abbau des Grenzzauns hatten wir mit Moskau ausverhandelt. Nicht aber, dass wir den DDR-Bürgern die Ausreise erlauben würden. Die Überlegung war: Wenn Moskau Nein gesagt hätte, hätte das den Hardlinern in Ungarn enormen Auftrieb gegeben. Das war also viel zu riskant. Deshalb haben wir sie überrascht. Sieben Stunden vor Grenzöffnung haben wir es dem sowjetischen Botschafter in Budapest mitgeteilt. Dann war der Zug nicht mehr aufzuhalten.

Die Furche: Wer wusste eigentlich vorher von der Öffnung der Grenzen?

Horváth: Am 25. August 89 hatte es ein Treffen zwischen Miklós Németh, Gyula Horn, Hans Dietrich Genscher und Kohl gegeben. Dort haben wir ohne konkrete Terminangabe versprochen, dass wir die Ausreise genehmigen werden. Kohl hat uns gefragt: „Was verlangt Ungarn dafür?“

Die Furche: Hat Ungarn Geld genommen?

Horváth: Nein. Aber wir hätten damals alles von den Deutschen haben können. Kohl sagte auch, Ungarn wird früher EU-Mitglied als Österreich. Leider haben wir diese Chance nicht genutzt.

Die Furche: Wie steht die Bevölkerung Ungarns heute zu den Ereignissen von 1989? Haben sich die Hoffnungen erfüllt?

Horváth: Die Euphorie, die damals in Ungarn herrschte, ist verflogen. Die Menschen haben sehr hohe Opfer für die neue Zeit gebracht und sich eigentlich erwartet, dass sie am Reichtum des Westens teilhaben würden. Doch darauf warten viele Bürger noch immer. Wir befinden uns heute noch immer unter dem Wohlstandsniveau, das wir im Jahr 1990 erreicht hatten. Aber man sollte sich auch nichts vormachen. Um ein politisches System zu ändern, braucht man wenige Monate. Um ein Wirtschaftssystem zu ändern, braucht man zehn Jahre. Aber um eine Gesellschaft zu ändern, braucht man mehr als sechzig Jahre.

* Das Gespräch führte Oliver Tanzer

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