"Wir müssen Tabus aufgeben"

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Der Politologe Dave Sinardet von der Vrije Universiteit Brussel über den Ruf Brüssels und die Rolle der belgischen Politik in der Terror-Debatte.

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Der Politologe Dave Sinardet von der Vrije Universiteit Brussel über den Ruf Brüssels und die Rolle der belgischen Politik in der Terror-Debatte.

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Tagelang stand die belgische Hauptstadt ab dem 22. November still. Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand wegen Terrorgefahr. Ein Gespräch über die Auswirkungen der Angst und Unsicherheit.

Die Furche: Hat sich Brüssel durch die Sicherheitsblockade der Stadt verändert?

Dave Sinardet: Über einen bleibenden Effekt lässt sich im Moment noch nichts sagen. Gleichzeitig sind diese Vorfälle für Brüssel nicht zu unterschätzen: Für eine europäische Hauptstadt ist es ein Novum, dass zwei Werktage lang quasi alles stillsteht. Das ist nicht einfach zu vergessen, ein Teil davon bleibt auch hängen. Wie lange, hängt davon ab, wie sich das Bedrohungsniveau entwickelt.

Die Furche: Was hat dieser Zustand mit dem Bild von Brüssel gemacht?

Sinardet: Für das internationale Image war das natürlich nicht besonders positiv. Das gilt auch für das Bild innerhalb Belgiens. Vor allem in Flandern, das ohnehin eine ambivalente Beziehung zu Brüssel hat. Einerseits ist es auch die flämische Hauptstadt, andererseits gibt es dort immer noch einen antistädtischen Reflex und Desinteresse gegenüber Brüssel. Dieses negative Bild hat sich durch die jüngsten Ereignisse noch verstärkt.

Die Furche: Inzwischen entwickelt sich eine Diskussion, ob die Stadt am 22.11. tatsächlich nur knapp einem Anschlag entgangen ist.

Sinardet: Auch das lässt sich noch nicht nuanciert beurteilen, da Informationen nur stückchenweise bekannt werden: Was ist eigentlich genau passiert, wer befand sich wo, wie groß war die Drohung wirklich? Natürlich will sich kein Politiker im Nachhinein vorwerfen lassen, nicht genug getan, eine Bedrohung nicht ernst genommen zu haben. Diese Dynamik ist verständlich. Sicherlich ist man mit diesen Maßnahmen sehr weit gegangen, aber dafür kann es auch gute Gründe gegeben haben. Anscheinend hatten Sicherheitsdienste entsprechende Informationen.

Die Furche: Der Lockdown in Brüssel scheint das Image zu bestätigen, wonach die Hauptstadt Europas auch seine Jihad-Zentrale ist.

Sinardet: Ja, wobei das etwas von einem Schwarze-Peter-Spiel hat: Die französische Regierung zeigte nach den Anschlägen sehr schnell auf Belgien, die belgische wiederum derselben Dynamik folgend auf Brüssel und besonders auf Molenbeek, um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen. In Molenbeek waren die Sozialisten an der Macht, das lenkt sicher auch ab vom Versagen der Geheimdienste. All das hat das Belgium Bashing, und vor allem das Brussels Bashing, natürlich vergrößert - vor allem dadurch, dass Premier und Innenminister auf Molenbeek zeigten.

Die Furche: Apropos Molenbeek: Sie plädierten in belgischen Medien nach den Anschlägen für eine nuancierte Sichtweise und forderten, den Stadtteil nicht für alle Probleme verantwortlich zu machen.

Sinardet: Hinter der Situation in Molenbeek steht ein Cocktail von Faktoren. Sicherlich wurden unter dem früheren sozialistischen Bürgermeister Philippe Moureaux bestimmte Entwicklungen unterschätzt. Jedes Signal eines Problems tat er ab als Kritik an der multikulturellen Gesellschaft. In der Diskussion nach den Anschlägen sah man aber auch, dass jeder sich denjenigen vorknöpfte, der ihm politisch ins Konzept passte. Wer mit der PS nicht übereinstimmt, hat Ex-Bürgermeister Moureaux im Fokus. Wer die aktuelle (Mitte-rechts, T.M.)- Regierung kritisiert, richtet sich eher auf das Versagen der Geheimdienste.

Die Furche: In den Tagen nach den Pariser Anschlägen lernte die Weltöffentlichkeit auch einiges über die föderale Struktur Belgiens und vor allem über die komplexe Verwaltung Brüssels - und wie dies womöglich den Jihadisten in die Hände spielt.

Sinardet: Ich selbst bin schon lange dafür, die sechs Polizeizonen Brüssels zu fusionieren und den Gemeinden weniger Befugnisse zu geben. Diese eingeschränkten Befugnisse sind nicht gerade förderlich für eine integrale Politik in Brüssel, egal, ob es nun Sicherheit, Integration oder Bildung betrifft. Aber war dieser Punkt wirklich so zentral? Es gibt keinen Beweis dafür, dass eine andere Organisation die Anschläge verhindert hätte. Auf jeden Fall landet man mit dieser Frage in der belgischen Sprachgruppen-Problematik.

Die Furche: Können Sie das näher erklären?

Sinardet: Wenn flämische Politiker sagen, bestimmte Strukturen müssen sich ändern, stimme ich dem zu. Wenn sie sich beschweren, dass frankofone Parteien und bestimmte Personen darin an bestimmten Machtpositionen festhalten, stimme ich dem auch zu. Aber es stört mich, dass auf flämischer Seite Politiker nur auf diejenigen Elemente der Ineffizienz und Verstückelung weisen, die frankofone Interessen betreffen. Über andere Probleme, die die Folgen ihrer eigenen Wünsche sind, schweigen sie.

Die Furche: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Sinardet: In Brüssel sind die Gemeinschaften (also die als solche verfasste frankofone und die flämische Sprachgruppe, T.M.) befugt, wenn es um Unterricht oder auch Prävention von Radikalisierung geht. Es ist richtig, dass man eine einheitliche Sicherheitspolitik in Brüssel einführen sollte. Aber dies gilt auch für ein einheitliches Unterrichtssystem. Nur: Dem stehen die Gemeinschaften im Weg. Letzten Endes müssen auf beiden Seiten Tabus aufgegeben werden, wenn man eine effizientere Organisation Brüssels will.

Das Gespräch führte Tobias Müller

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