"Wir wissen, was wir uns einhandeln"

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Rachel Franklin leitet "Women for a People' s Vote" -"Frauen für eine Volksabstimmung". Die Politaktivistin setzt sich für ein zweites Brexit-Referendum ein. Die Kampagne zum Thema Nummer Eins in Großbritannien wird von verschiedenen Gruppen getragen, darunter auch die Journalistenplattform "InFacts", bei der Franklin im Brotberuf arbeitet. Nach eigenen Angaben hat die "People's Vote"-Kampagne 20.000 Aktivisten, 700.000 Unterstützer und über eine Million Follower in den sozialen Medien.

FURCHE: Ist es nicht zu spät, für ein zweites Referendum zu kämpfen? Kann man den Brexit noch aufhalten?

Rachel Franklin: Ich schätze die Chancen nicht so schlecht ein. Wenn wir demnächst endlich wissen, wie unsere Zukunft nach dem Brexit aussehen würde, dann sollte das britische Volk doch das Recht bekommen, darüber noch einmal abzustimmen. Man kauft ja auch kein Haus, ohne es vorher zu besichtigen. Nach den jüngsten Umfragen sind 58 Prozent aller Frauen in Großbritannien dafür, noch ein Referendum über den Brexit abzuhalten. Zwölf Prozent mehr Frauen als Männer sind gegen den Brexit. 57 Prozent der Frauen wollen lieber in der EU bleiben. Mütter mit Kindern unter zehn Jahren sprechen sich besonders deutlich gegen den EU-Austritt aus.

FURCHE: Warum sind die Frauen denn generell EU-freundlicher?

Franklin: Wie bei der Finanzkrise 2008 wird auch der Brexit die Frauen härter treffen. 77 Prozent der Angestellten in der öffentlichen Gesundheitsversorgung NHS sind Frauen. Dort wurde seit 2010 enorm gespart. Nach dem EU-Austritt sind noch größere Probleme zu erwarten.

FURCHE: Es werden nach dem Brexit weniger EU-Bürger in britischen Spitälern als Ärztinnen und Krankenschwestern anheuern, das könnte doch für die hiesigen Medizinerinnen auch gut sein, oder? Franklin: Es gibt schon jetzt nicht genug Personal. Das Gesundheitssystem droht zusammenzubrechen. FURCHE: Immerhin hat Großbritannien eine Frau als Chefverhandlerin und Regierungschefin, ist das generell von Vorteil? Franklin: Es stimmt, mit Theresa May steht eine Frau an der Spitze. Doch nur elf Prozent des britischen Verhandlungsteams sind Frauen. Meiner Meinung nach sind die Anliegen der Frauen nicht ausreichend vertreten. FURCHE: Die Frauen hätten schon beim EU-Referendum ihre Stimme erheben sollen, warum wurden die Gefahren nicht vorher erkannt? Franklin: Wenn man die Daten analysiert, kann man sehen, dass der größte Meinungsumschwung bisher unter den weißen Frauen der Arbeiterklasse stattgefunden hat. Sie waren vor zwei Jahren noch zu wenig informiert und haben vielleicht gedacht, Boris Johnson würde wirklich dafür sorgen, pro Woche 350 Millionen Pfund in die NHS zu investieren. Diese Illusion hat sich verflüchtigt. All diese Versprechen von Boris Johnson haben sich längst als Brexit-Märchen herausgestellt.

FURCHE: Ihre Gegner sagen, man soll kein zweites Referendum abhalten, weil man sonst den Willen des Volkes nicht akzeptiert. Im Juni 2016 haben die Briten für den Austritt gestimmt.

Franklin: Inzwischen wissen wir besser, was wir uns mit dem Brexit einhandeln. Deshalb sollten wir uns daran halten, was unser ehemaliger Brexit-Minister David Davis schon im Jahre 2012 erkannt hat: "Ein Grundrecht der Demokratie ist, dass man seine Meinung ändern kann."

FURCHE: Scheitern die Verhandlungen mit der EU, dann wären wieder alle Optionen offen, oder? Was würde es bedeuten, wenn es kein Abkommen gibt?

Franklin: "No Deal" wäre eine Katastrophe. Auch da sind die Frauen wieder an vorderster Front betroffen. Wer wird aus Angst vor Versorgungsengpässen Nahrungsmittel horten? Eher die Frauen als die Männer, schließlich sind sie immer noch viel öfter für den Haushalt zuständig als ihre Partner. Genauso ist es mit der medizinischen Versorgung von Familien. Es gibt die Befürchtung, dass im Falle von keinem Scheidungsabkommen Medikamente nicht rechtzeitig an Patienten ausgegeben werden können. Oft sind es die Mütter, die mit ihren Kindern die Termine bei den Ärzten wahrnehmen. Bei einem No-Deal-Szenario wird befürchtet, dass bis zu 28.000 EU-Bürger plötzlich aus dem Pflegepersonal ausscheiden müssten, weil sie ihre Arbeits-und Aufenthaltsrechte verlieren könnten. Frauen gehen deshalb viel bewusster mit den Brexit-Plänen um, weil sie sich vorstellen können, was ein Sprung von der Klippe für Engpässe nach sich ziehen könnte.

FURCHE: Sollte Theresa May aber in Brüssel Erfolg haben, wie groß sind dann die Chancen, dass sie im Parlament mit ihrem Scheidungsabkommen durchkommt? Allein in ihrer Regierung sind unter den Hardlinern zwei Frauen, die drohen, einen allzu sanften Deal nicht mitzutragen.

Franklin: Es ist derzeit vollkommen unmöglich, zu sagen, wie viele konservative Rebellen gegen die eigene Regierungschefin stimmen werden. Nur 32 Prozent der Abgeordneten sind derzeit Frauen und wir versuchen, sie mit unserer Kampagne gezielt anzusprechen. Wir sprechen mit ihnen, wir klären auf. Vielen ist das Brexit-Chaos nicht geheuer, aber viele wollen auch nicht gegen die eigenen Wähler vorgehen, die eventuell für den EU-Austritt gestimmt haben. Aber eines ist klar: Wenn das Parlament einem May-Deal nicht zustimmt, dann steigen die Chancen für ein zweites Referendum über den Brexit.

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