Wo Tote zur Wahl gehen

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Die Opposition ruft zu zivilem Ungehorsam auf, Präsident Schewardnadse droht der Sturz. Die Parlamentswahlen in Georgien haben eine schwere Krise ausgelöst. Augenzeugenbericht eines Wahlbeobachters.

Die Massendemonstrationen gegen Präsident Eduard Schewardnadse vom letzten Wochenende brachten die Opposition in Georgien ihrem Ziel - dem Sturz des Präsidenten - nicht näher. Ziviler Ungehorsam wurde jetzt als neue Strategie ausgerufen. Auslöser für die Unruhen sind die Parlamentswahlen von Anfang des Monats: Ein Lehrstück dafür, wie eine dominante politische Klasse Demokratie zur Farce machen kann. Georgien war noch nie bekannt für hohe demokratische Standards. Die OSZE fühlte sich nach der Präsidentschaftswahl 2000 zu einer harschen Beurteilung hingerissen: "Bedeutender Fortschritt ist noch notwendig, damit Georgien seine Verpflichtungen als Mitgliedsstaat der OSZE voll erfüllen kann." Man war also für die Parlamentswahlen vorgewarnt und erhöhte die Zahl der internationalen Kurzzeitbeobachter auf 450. Österreich entsandte elf.

Wie bei solchen Missionen üblich wurden die Einsätze der Kurzzeitbeobachter von Langzeitbeobachtern vorbereitet. Gemäß der OSZE Standardmethode arbeiteten die Beobachter in internationalen Zweierteams mit einem lokalen Fahrer und einem lokalen Übersetzer. Pro Team können dabei etwa zehn Wahlstationen am Wahltag besucht werden, was bei mehr als 200 Beobachterteams einen guten Überblick ermöglicht.

Leichte Opfer: Minderheiten

Das meinem Team zugewiesene Gebiet im Süden von Tiflis, im Distrikt Kwemo Kartli, ist als besonders regierungsfreundlich und als besonders problematisch, was den korrekten Ablauf von Wahlprozessen angeht, bekannt. Beides lässt sich vor allem auf den ethnischen Faktor zurückführen. Kwemo Kartli ist mehrheitlich von Azeris bewohnt, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur sechs Prozent ausmacht. Anfang der neunziger Jahre gab es ethnische Spannungen in der Region, bis hin zu Vertreibungen von Azeris durch georgische Nationalisten. Der in dieser Zeit ins Amt gekommene Präsident Eduard Schewardnadse stoppte die Übergriffe und gilt daher für viele Azeris als Sicherheitsgarant.

Die Azeris Georgiens sind ein leichtes politisches Opfer - was übrigens auch für viele andere der über 90 Minderheiten Georgiens, die 16 Prozent der Bevölkerung ausmachen, gilt. Sie lassen sich schnell durch die demonstrative Freundschaft Schewardnadses mit dem Präsidenten des benachbarten Aserbaidschan beeindrucken, schauen sie doch genauso ehrfürchtig nach Baku wie nach Tiflis. Kein Wunder, kaum jemand der georgischen Azeris spricht die Staatssprache Georgisch, noch können die turksprachigen Azeris das einzigartige georgische Alphabet entziffern.

Auch Ausgewanderte wählen

In der Praxis heißt das, dass sie weder georgisches Fernsehen, Zeitungen, noch Wahlplakate oder selbst Stimmzettel lesen können. Aber die Regierungspartei hat vorsorglich jedes Dorf mit Wahlplakaten voll gepflastert und darauf prangt groß die Zahl "1", was der Reihung der Regierungskoalition "Für ein Neues Georgien" am Wahlzettel entspricht. Zudem hat der lokale Parteiapparat, der in vielen Fällen identisch mit der Lokalverwaltung ist, für entsprechende Instruierung der Bevölkerung gesorgt. Der gleiche Apparat, der auch über die Verteilung von Strom, Wasser, Heizmaterial und die Verpachtung von Land an die Bauern entscheidet.

Ernsthafte politische Oppositionskandidaten wurden nicht nur medial ignoriert, sondern oft auf der Grundlage von dubiosen Beschuldigungen von der Kandidatur ausgeschlossen. Und schließlich ist der Apparat auch für die Erstellung der unzulänglichen Wählerlisten verantwortlich. Viele erboste Stimmbürger fanden sich darin am Wahltag nicht wieder, während sie die Namen von anderen, längst ausgewanderten oder verstorbenen Einwohnern hingegen in der Liste fanden.

Eine weitere Ebene der Wahlbeeinflussung ist jene des Wahlablaufs am Wahltag. Sie fängt bei der Zusammensetzung der lokalen Wahlkommissionen an. Kommissionen wurden übermäßig aufgeblasen und mit Vertretern der Regierungsparteien besetzt. Vertreter von Oppositionsparteien hat man eingeschüchtert und an den Rand der Wahllokale verbannt. Vertreter von unabhängigen lokalen NGOs wurden ebenfalls an den Rand gedrängt und bei Beschwerden meist ignoriert. Zur Sicherheit hatte die Regierungskoalition ihre eigenen "unabhängigen" NGOs gegründet. Diese traten dann in Gruppen von bis zu zehn bedrohlich wirkenden Beobachtern im Wahllokal auf um "nach dem Rechten zu sehen".

Der Boden war somit aufbereitet, um das Resultat massiv zu Gunsten der Regierungsparteien zu beeinflussen. Das tatsächliche Ausmaß der Unregelmäßigkeiten bis hin zu Wahlbetrug übertraf meine Erwartungen aber bei Weitem: In sämtlichen sieben Wahlstationen, die mein Team besuchte, war das "Wahlgeheimnis" kein wirklich geheimes. Die Vorschriften der zentralen Wahlkommission hatten vorgesehen, dass die Stimmzettel vor der Stimmabgabe von zwei Kommissionsmitgliedern auf der Rückseite unterzeichnet und nach der Stimmabgabe von einem weiteren Mitglied gestempelt werden müssen. Erst danach wurden die Stimmzettel in die Urne geworfen. In der Praxis gab dies dem stempelnden Kommissionsmitglied Gelegenheit, jeden einzelnen Stimmzettel ausgiebig zu inspizieren. Das Ankreuzen des Wahlzettels fand meist in einem Nebenraum statt, ohne Wahlzellen und mit mehreren anwesenden Personen.

Eine Stimme öfter abgeben

Diese Art des Wahlablaufs war aber nur die augenscheinlichste Verletzung demokratischer Wahlstandards. Bei näherer Betrachtung fiel auf, dass Kommissionsmitglieder zum Teil Stimmzettel selbst ausfüllten, Ausweise nicht kontrollierten, mehrere Stimmzettel für Familienmitglieder an eine Person aushändigten und genaue Instruktionen erteilten wie und wer zu wählen sei. Zufällig entdeckte Listen erhärteten schließlich den Verdacht, dass Wähler mit Bussen hintereinander zu mehreren Wahlstationen gebracht wurden, um öfter als einmal zu wählen. Schließlich deckten wir in drei Wahlstationen das Fehlen einer großen Zahl von Stimmzettel auf, während wir von anderen Beobachtern hörten, dass sich woanders kurz nach Eröffnung des Wahllokals bereits unwahrscheinlich viele Stimmzettel in der Urne befanden.

Schewardnadses Rücktritt

Wie kann man diese Einzelbeobachtungen in die Gesamtbeurteilung der Wahlen einordnen? Eine Verallgemeinerung der Situation in Kwemo Kartli auf ganz Georgien wäre problematisch. In der Diskussion mit Beobachterkollegen wurden zwar viele Unregelmäßigkeiten zur Sprache gebracht, doch das Ausmaß schien unter jenem in "meiner" Region. Offiziell relevant ist sicher nicht mein eigener Eindruck, sondern die Gesamtbeurteilung der OSZE: "Die Unregelmäßigkeiten und Verzögerungen im Wahlprozess am Wahltag reflektieren einen Mangel an kollektiven politischen Willen und administrativer Kapazität für das Durchführen der Wahlen."

Stellt sich die Frage, ob diese verklausulierte Beurteilung nicht doch wieder zu zahm ist - weder Schewardnadse noch Opposition lassen sich davon jedenfalls beeindrucken. Und auch die Leiterin der Wahlkommission, Nana Dewdariani, sieht ihre Arbeit noch gelassen: "Ich habe nicht das Recht, der Opposition die Stimmen von Wählern zuzuschlagen, die für andere Parteien votiert haben." Wie diese Stimmen abgegeben wurden, danach fragt sie wohlweislich nicht.

Der Autor ist Senior Research Officer am International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) in Wien.

Weitere Informationen auf der Website des Autors: http://www.net4you.com/jandl/

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