Wolken über Europa

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Die Erosion der Politischen schreitet dramatisch fort. Die Menschen verstehen nicht mehr, was gespielt wird. Zudem beschleicht sie zunehmend der böse Verdacht, den politischen Akteuren gehe es nicht viel anders.

Was heute gilt, ist morgen schon wieder anders. Irgendwo wird ein Luftraum gesperrt, tags darauf ist er wieder offen. Die Aschewolke gibt es anscheinend, aber keiner weiß genau, wo sie sich gerade befindet und wie gefährlich sie wirklich ist. Sie taucht auf und verschwindet wieder (zumindest aus den Schlagzeilen), um sich dann neuerlich in Erinnerung zu rufen. „Gedenke, Mensch, dass deine Mobilität nicht grenzenlos ist!“

Wir haben mit der Wolke zu leben gelernt – wie uns auch das Kondensat aus Euro-Milliarden am europäischen Himmel, das uns in ständig wechselnden Formationen und Größen erscheint, längst vertraut ist. Manchmal geht es dabei um Kredite, dann um Haftungen, bisweilen gar um konkrete Zahlungen; einmal werden damit Banken gerettet, dann wieder darniederliegende Branchen, gerne auch ganze Länder – oder gleich die gesamte Währungsunion.

In den Abflughallen

Natürlich, das ist ökonomisch äußerst unscharf formuliert. Aber wer hat eigentlich noch den Überblick über all die Milliarden-Hilfen/Kredite/Haftungen, die seit Wochen und Monaten fast täglich durch die Meldungen schwirren? Unvorstellbare Beträge allesamt – von denen keiner weiß, was sie wirklich bewirken können. Die Menschen gleichen unterdessen jenen, die in den Abflughallen Europas auf ihre Flüge warten. „Cancelled“ lesen sie, niemand kann ihnen sagen, wie es weitergeht, und so richten sie sich zwangsläufig im Provisorium ein.

Es ist eine eigenartige psychisch-emotionale Gemengelage, die da entsteht: Zorn, Unmut, Enttäuschung machen sich breit, auch Langeweile, Desinteresse, Gleichmut, bei manchen vielleicht gar eine Art heiterer Gelassenheit im Sinne des Mich wundert, dass ich froelich bin (15. Jh.?). Wozu der Einzelne neigt, mag von Tagesverfassung und Temperament abhängen. All diesen Befindlichkeiten gemeinsam ist aber die zugrundeliegende Einsicht, die gegebene Situation nicht wirklich verstehen, an ihr wenig ändern zu können und ihr somit weitgehend ausgeliefert zu sein. Alles in allem ein seltsam lähmender Schwebezustand.

Die negativen Auswirkungen für den Flugverkehr werden sich langfristig in Grenzen halten, auch wenn die Illusion der „Freiheit über den Wolken“ wieder ein paar Kratzer mehr abbekommen haben mag. Dramatische Auswirkungen dürften die Ereignisse dieser Tage und Wochen indes auf der Ebene der Politik haben. Das Problem besteht darin, dass die Menschen nicht nur selbst nicht genau verstehen, worum es geht, sondern sie auch der grässliche Verdacht beschleicht, bei den Akteuren sei es nicht viel anders. Wissen die, was sie warum beschließen, zu welchem Zweck welche Milliarden „bereitgestellt“ werden und was das für Folgen haben wird? Eher nein. Paradoxerweise schreitet solcherart just zu einer Zeit, da die Stunde der Politik gekommen zu sein scheint und diese dankbar den Ruf vernimmt, die Erosion des Politischen fort. 80 Milliarden für Griechenland, 750 Milliarden für den Euro, was kommt als Nächstes? Die Menschen schalten einfach ab, Rollo herunter.

Politik unter Zeitdruck

Es werde „immer schwieriger, einen stabilen Rahmen für die Wirtschaftstätigkeit und die sozialen Prozesse zu zimmern“, hat der deutsche Philosoph Rüdiger Safranski formuliert (siehe Seite 13). „Die Entscheidungen in der Wirtschaft erfolgen schnell, die in der Politik, vor allem wenn sie demokratisch legitimiert sein sollen, langsam. Die Politik gerät unter Zeitdruck, und es gehört einiger Mut dazu, sich für gewisse Entscheidungen von großer Reichweite – Zeit zu lassen.“

Mut aber ist nicht eben eine hervorstechende Eigenschaft des gegenwärtigen politischen Personals. Dessen Protagonisten wirken vielmehr wie Getriebene, die mit Aktionismus die eigene Unsicherheit überspielen. Kaum jemand glaubt daher auch noch, dass es bei Wahlen um wirkliche Richtungsentscheidungen ginge. Wer verbraucht wirkt, wird abgewählt – das ist das Gesetz der Mediendemokratie. Aber sonst?

* rudolf.mitloehner@furche.at

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