Wut aus den Wahlurnen

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Der Wahlerfog der Islamisten in der Türkei wurde durch die Zehn-Prozent-Hürde begünstigt. Viele Parteien - über 40 Prozent der Stimmen - sind nicht im Parlament vertreten. Unter ihnen auch 12 Millionen Kurden. Ein Lokalaugenschein in der türkischen Kurdenprovinz.

Sirnak im südöstlichsten Winkel der Türkei, wenige Kilometer von der Grenze zum Irak entfernt. Dreißig Männer schauen den ausländischen Besuchern neugierig entgegen, wie sie die bröckelige Treppe zum DEHAP-Büro hochklettern. Dreißig Hände wollen geschüttelt werden, dreißigmal der freundliche Gruß "Hos geldiniz" - herzlich willkommen. DEHAP ist die Abkürzung für Demokratische Volkspartei, ein türkisches Wahlbündnis, das zu Stande gekommen war, um dem drohenden Verbot der pro-kurdischen Demokratischen Partei des Volkes (HADEP) zuvorzukommen. Denn trotz der jüngsten Reformen, die den rund 12 Millionen Kurden in der Türkei auf dem Papier mehr kulturelle Rechte einräumen, bleiben ihnen eigene politische Organisationen verwehrt. Als positives Zeichen kann jedoch gewertet werden, dass die oberste Wahlbehörde einen Einspruch der Staatsanwaltschaft gegen die Zulassung der DEHAP zur letzten Parlamentswahl in der Türkei zurückgewiesen hat.

Gefängnisstrafe für Amtseid

Die Wurzeln der DEHAP reichen in die neunziger Jahre zurück, als einige kurdische Politiker - auf der Liste einer sozialdemokratischen Partei - Einzug ins Parlament hielten. Die kurdische Abgeordnete Leyla Zana, Trägerin des Sacharow-Preises für Menschenrechte, sitzt noch heute im Gefängnis, weil sie damals den Amtseid nicht nur auf Türkisch, sondern auch auf Kurdisch abgelegt hatte.

Im Parteibüro in Sirnak beginnen die kurdischen Männer inzwischen, Tee zu servieren, Plastikstühle werden zurechtgerückt, der Vorsitzende nimmt Platz hinter dem Schreibtisch unter dem Porträt von Staatsgründer Atatürk. Das Telefon klingelt, jemand aus dem Dorf Ortaköy berichtet, dass die Dorfbewohner bei der Parlamentswahl offen abstimmen müssten. Wenn sie weiter auf Wahlkabinen bestehen sollten oder die DEHAP wählen, dann werde ihnen mit der Räumung ihres Dorfes gedroht, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung. "Innerhalb der letzten zehn Tage haben wir 500 solcher Anrufe entgegengenommen", erzählt der Vorsitzende. "Die Drohungen gehen meist von den örtlichen Militärkommandanten aus oder vom Landrat."

Schikanen im Wahlkampf

In der Provinz Sirnak hatten Militär und Kommunalverwaltung lange versucht, die Gründung einer HADEP-Niederlassung zu verhindern. Nachdem das nicht gelungen ist, wurde mit allen möglichen Schikanen versucht, einen effektiven Wahlkampf der HADEP zu verhindern. Obwohl die kurdische Arbeiterpartei PKK 1999 die Waffen niedergelegt und sich aufgelöst hat, ist die Provinz immer noch im Ausnahmezustand. Deshalb hat die DEHAP auch internationale Wahlbeobachter eingeladen.

Hier, weit im Osten der Türkei, ist es morgens um halb sechs schon hell, eine halbe Stunde später öffnen die Wahllokale. Mit einem Minibus fahren deutsche Gewerkschafter, australische Übersetzer, ungarische, deutsche und kurdische Journalisten in die Berge. Es ist nicht mehr so warm wie in Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der Kurden in der Ebene. Die Straße schlängelt sich durch die zerklüftete Landschaft, Schlagloch an Schlagloch. Plötzlich, mitten im Nirgendwo, taucht neben der Straße ein Zeltdorf auf, "Kizilay" ("Roter Halbmond") steht auf weißem Stoff. Frauen in alten Kleidern und Kopftüchern blicken den Gästen misstrauisch entgegen. "Seit dem Frühjahr leben wir hier", erzählt ein elfjähriges Mädchen. "Unser Dorf ist verbrannt worden." Sie dreht sich um und fragt ihre Mutter: "Wann?" Nach einigem Zögern die Antwort: "Vor zehn Jahren." Seitdem hätten sie versucht, sich in den türkischen Großstädten im Westen anzusiedeln. "Aber wir konnten die Mieten nicht zahlen, haben keine Arbeit gefunden und dann sind wir hierher zurück. Wir haben nichts, noch nicht einmal genug zu Essen." Ob sie wählen gehen? Eine alte Frau winkt ab. "Kandidaten von allen Parteien sind gekommen und haben gesagt, wir sollen sie wählen, sie würden uns helfen. Bis jetzt hat uns niemand geholfen und gekommen sind sie auch nicht mehr."

Jedes Dorf hat einen Militärposten, ab und zu kommt ein Kontrollpunkt. Zu den Ausländern sind die Soldaten freundlich, machen Scherze. Sie werden durchgelassen. Die Straße verdient den Namen nicht mehr, der Minibus ächzt die Berge hinauf. In der Kleinstadt Beytüssebap steht die Wahlurne im Flur einer Schule, zum Wählen geht man ins Klassenzimmer hinter die aufgetürmten Schulbänke.

"Richtig" wählen, sonst Strafe

Ein alter Mann mit "Pusi", so heißt der Turban auf kurdisch, und Pluderhosen ist an der Reihe. Er stützt sich auf seinen Stock, ist blind und hat einen Verwandten mitgebracht. Nach dem Gesetz darf nur ein Verwandter mit in die Wahlkabine und dem Behinderten helfen. "Seit heute morgen machen wir das aber nicht so", begehrt einer der örtlichen Wahlbeisitzer auf. "Vorher bist immer du mit hinein gegangen", meint er treuherzig und zeigt auf den Wahlleiter. Der ist aufgebracht und bezichtigt den anderen der Lüge. Die Männer beginnen zu streiten, andere mischen sich ein. Der Alte sagt kein Wort und setzt sich erst einmal hin. Andere erzählen, dass sie gezwungen wurden, offen zu stimmen. Der Militärkommandant habe den Bewohnern mit Schwierigkeiten gedroht, sollten sie DEHAP wählen.

Zurück in die Berge?

"Wie lange wollen die Kurden denn das alles noch ertragen, bis sie wieder in die Berge gehen?" fragt ein ungarischer Journalist. Necdet Durmus, ein Bewohner des Dorfes, antwortet: Er wolle nicht in die Berge, Menschen töten komme für ihn niemals in Frage. Er habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich etwas ändern wird, dass jemand das Armutsproblem löst. Vielleicht wird auch der kurdische muttersprachliche Unterricht eingeführt, den es auf dem Papier ja schon gibt. Absurde Vorschriften verzögern die Einführung, erklärt Durmus. Es dürfen nur Lehrer unterrichten, die ihre Ausbildung in der Türkei gemacht haben. Kurdisch war aber lange Zeit eine verbotene Sprache, also gibt es keine Lehrer mit türkischem Abschluss. Kurdisch ist vor allem die Sprache der Frauen, 50 Prozent der Dorffrauen kann kein Türkisch. Die Sprachen unterscheiden sich so sehr voneinander wie deutsch und türkisch, denn kurdisch ist eine indogermanische Sprache.

Necdet Durmus redet nicht von einem eigenen Staat und nicht von Autonomie, sondern von Europa. Alle wollen in die Europäische Union: die DEHAP genauso wie die Islamisten. Durmus glaubt nicht daran, dass die Türkei den Beitritt schaffen wird. "Die Europäer haben bestimmt kein Interesse an einem Land, das im Osten so arm ist und dann noch eine andere Religion hat. Wahrscheinlich sind wir nur strategisch wichtig." Dafür reiche auch die Mitgliedschaft in der NATO.

In der Ortschaft Cem Uzan wird die ausländische Delegation in ein kurdisches Haus eingeladen. Der Raum ist mit Teppichen ausgelegt, an der Wand stapeln sich Schlafmatten, einziges Möbelstück ist eine Vitrine, in der ein Fernseher läuft. Die Menschen sitzen am Boden. Es sind fast nur Frauen da, sie erzählen, dass sie nicht gewählt haben. Ihre Männer hätten für sie die Stimme abgegeben, das sei kein Problem gewesen. So seien sie wenigstens darum herum gekommen, das zu wählen, was ihnen der Großgrundbesitzer befohlen hat.

Ein junger Mann will etwas loswerden: "Unser Dorf ist geteilt, in diejenigen, die lesen und schreiben können, und die, die es nicht können. Das sind vor allem unsere Eltern. Sie machen alles, was der Aga ihnen sagt. Wir Jungen denken anders. Was sollen wir machen? Unsere Eltern sind vom Grundherren abhängig und so einfach können wir uns nicht dagegen stellen."

Erfolg im Osten reicht nicht

Am Abend des Wahlsonntags kommen die ersten Hochrechnungen. Schnell ist klar, dass die Partei die Zehn-Prozent-Hürde nicht schaffen wird, auch wenn sie in den östlichen Gebieten fast überall die Wahl gewonnen hat. Enttäuschung im Sirnaker DEHAP-Büro. Nur Mehmet, Taxifahrer aus Diyarbakir, ist zufrieden. "Okay, es hätte besser sein können, aber die Islamisten sind auch gut. Vielleicht zeigen sie es dem korrupten Haufen, dass wir das nicht mehr mitmachen. Die Islamisten haben nichts gegen uns Kurden. Vielleicht werden sie ein gerechtes Sozialsystem einführen", meint er. Die Zeitungsüberschriften am Tag nach den Wahlen bestätigen Mehmet: "Die Wut kam aus den Wahlurnen!"

Die Autorin ist freie Journalistin.

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