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Die blutigen Ereignisse im Nahen Osten ließen die tiefe politische, ökonomische und kulturelle Krise der arabischen Welt deutlich sichtbar werden.

Im Libanon marschierten 200 Kinder, manche davon nicht älter als acht, durch die Straßen von Beirut und Tyre, als Selbstmordattentäter gekleidet, einen Gürtel mit Sprengstoffattrappen um die Hüften gebunden. "Wenn Abu Ammar (Palästinenserführer Yassir Arafat; Anm.) den Märtyrertod erleidet, dann werden wir Botschaften in die Luft sprengen und Flugzeuge kapern", brüllten Palästinenser im Flüchtlingslager von Tyre.

In Kairo schwenkte eine Gruppe von Anwälten bei einer Demonstration das Spruchband: "Morgen findet die Revolution statt". Und im fernen Marokko strömten mehr als eine Million Menschen auf die Straßen, um den notleidenden Palästinensern ihre Sympathie zu bezeugen. Es war die größte Massenkundgebung seit vielen Jahren, und das Regime genehmigte sie, um den Zorn der Bevölkerung abzulassen. Und um sicher zu sein, dass sich die Emotionen nicht gegen die politischen Führer selbst richten, stellten sich hohe Regierungsvertreter an die Spitze der Protestmärsche. In Jordanien veranstaltete das Königshaus die größte Spendenaktion in der Geschichte des Landes. Umgerechnet 13 Millionen Dollar wurden an Not-hilfe für die Palästinenser in nur einem Tag gesammelt, das entspricht in einem Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 1.500 Dollar im Jahr stattlichen 2,5 Dollar pro Person und 0,15 bis 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Traditionell gestatten die überwiegend autokratischen Herrscher der arabischen Welt Demonstrationen ihrer Bürger nur höchst selten und in den schärfsten Diktaturen überhaupt nur dann, wenn es im ureigensten Interesse des Regimes selbst liegt. Nun aber hat die humanitäre Katastrophe, die die israelischen Soldaten in Nablus, in Bethlehem und in anderen Städten der Palästinensergebiete anrichten, die Emotionen der Menschen überall in der arabischen Welt derart in Wallung gebracht, dass die ob des steigenden Volkszorns verängstigten Regierungen ein Ventil öffnen müssen. Selbst in den normalerweise politisch ruhigen arabischen Ölstaaten drängt es aufgebrachte Menschen auf die Straßen.

Schwäche der Führer

Die Wut richtet sich gegen Israels Premier Ariel Sharon, ebenso aber auch gegen die USA, die in den Augen der Mehrheit arabischer Kommentatoren allzulange die israelische Armee in ihren Racheakten gegen die palästinensischen Selbstmordattentäter gewähren ließ. Warum, so brennt es vielen Menschen auf den Lippen, warum entsandte US-Präsident George Bush erst zehn Tage nach Beginn der israelischen Militäroperationen seinen Außenminister Colin Powell in die Region, damit er dem Grauen Einhalt gebiete?

Seit Jahrzehnten stand die arabische Welt nicht mehr in solchem Aufruhr. Ein starkes Gefühl der Ohnmacht und einer ungeheuerlichen Ungerechtigkeit speist die Wut. Sie wird gesteigert durch eine als katastrophal empfundene Führungsschwäche der arabischen Herrscher, die bei dem jüngsten Gipfel in Beirut Ende März zwar Israel die Hand zum Frieden boten, doch keine konkreten Aktionen setzten, um der militärischen Gewalt des Judenstaates Einhalt zu gebieten. Die symbolische Geste Ägyptens, die diplomatischen Beziehungen zu Israel auf Kontakte zu begrenzen, die den Palästinensern nutzen, erregt weithin Empörung. Weder Ägypten noch Jordanien - die einzigen arabischen Staaten, die mit Israel Frieden schlossen - folgten dem Ruf nach dem vollständigen Bruch mit Israel.

Riesige Bürokratien

Die Turbulenzen in der Region spülen eine tiefe Misere, unter der die arabische Welt seit langem leidet, an die Oberfläche. Die verängstigten Autokraten müssen nun fürchten, dass der Zorn über Sharons Untaten eine Revolution in ihren Ländern entfachen könnte, die sich schließlich auch gegen sie selbst richten würde. Der klägliche Zustand der arabischen Welt lässt sich durch ein Ereignis illustrieren, das dem Herausgeber der jordanischen Wochenzeitung Al-Shahid jüngst zum Verhängnis wurde. Er veröffentlichte eine Fotomontage, die arabische Außenminister als Gruppe von Kindern darstellte, vor einer Wand hockend. Der Kopf des Generalsekretärs der Arabischen Liga, Amr Moussa, saß auf dem Körper eines Babies, das auf allen Vieren kroch. Das jordanische Regime wandte eilfertig ein neues, für den "Kampf gegen den Terrorismus" erlassenes Gesetz an und verhaftete den Zeitungsherausgeber unter dem Vorwurf der "Beleidigung arabischer Bruderländer". Die Karikatur illustriert Zorn und Abscheu der arabischen Bevölkerungen über die Schwäche ihrer Führer; die Verhaftung des Journalisten die Paranoia der autokratischen Herrscher angesichts dieses Ärgers.

Der neu-proklamierte König Bahrains, Scheich Hamad bin Issa al-Khalifa, ließ zur Vorbereitung des Arabischen Gipfels (am 27./28. März) eine Website einrichten, damit die Bevölkerung dort ihre Ansichten über das Palästinenserproblem darlegen könne. Das Ergebnis war ein überwältigendes Misstrauensvotum für die arabischen Führer. Doch noch peinlicher für Hamad, dessen Inselstaat das Hauptquartier der Fünften Amerikanischen Flotte beherbergt, ist die scharfe Ablehnung amerikanischer Politik, die diese Umfrage zu Tage brachte.

Düstere Vorahnungen quälen arabische Kommentatoren. "Hat die arabische Welt ihre historische Rolle und ihre Fähigkeit erschöpft, sich der Herausforderung existentieller Bedrohungen zu stellen", fragt die Tageszeitung Al Khalij, und sie zählt dazu an vorderster Stelle das Palästinenserproblem, aber auch den drohenden amerikanischen Krieg gegen den Irak. "Alles wird sich verändern", schreibt der libanesische Daily Star, "aber die Majestäten und Exzellenzen (die arabischen Führer; Anm.) scheinen in éiner anderen Welt zu leben". Sie seien von ihren eigenen Überlebensspielen in Atem gehalten und kümmerten sich nicht um den kläglichen Zustand ihrer Nation. Dass dieser Zustand tatsächlich kläglich ist, zeigt ein Blick in die Statistik. Die Araber erlitten nach Ansicht von Experten der Region einen politischen, ökonomischen und kulturellen Niedergang. In den vergangenen zwei Jahrzehnten verzeichneten sie ein niedrigeres Wirtschaftswachstum als jede andere Region der Welt. Die Arbeitslosenrate stieg bei einem Bevölkerungswachstum von teilweise mehr als drei Prozent auf mindestens 20 Prozent und der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen von sieben Prozent in den sechziger Jahren auf bis zu 30 Prozent im Jahr 2000.

Dabei ist es nicht einmal so sehr die Armut, die viele, insbesondere junge Menschen, in die Verzweiflung treibt. Es sind vielmehr Wirtschaftssysteme, die Absolventen höherer Schulen und Universitäten äußerst geringe Arbeits- und kaum berufliche Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Im Gegensatz zu fast allen anderen Regionen der Welt stagniert die arabische Welt politisch und ökonomisch, mit riesigen ineffizienten bürokratischen Apparaten und einem unterentwickelten Privatsektor.

Hohe Rüstungskosten

Zur Absicherung ihrer eigenen Macht scheuen arabische Herrscher jedoch keine Kosten für die Rüstung und bremsen damit das Wirtschaftswachstum. Allein im vergangenen Jahr gaben sie dafür nach Angaben des Arab Defence Journal mehr als 40 Milliarden Dollar aus. In Saudi-Arabien etwa frißt die Verteidigung fast 45 Prozent der Gesamtausgaben. Im Schnitt flossen im Vorjahr 5,5 Prozent des gesamten arabischen Bruttoinlandsprodukts in den Sicherheitssektor, während der Anteil in Industrieländern bei weniger als einem Prozent liegt. Militärkreise schätzen, dass die arabische Welt seit Ende des Kuwait-Krieges 1991 mehr als 400 Milliarden Dollar in die Verteidigung investiert hat. "Doch kein arabisches Land", klagt die Beiruter Tageszeitung Daily Star, "findet sich heute in der Lage, sich selbst gegen regionale Rivalen zu verteidigen, geschweige denn einen Krieg gegen Israel zu führen." "Worin liegt der Wert dieser Ausgaben in einer Zeit, da die Mehrheit der Araber in tiefer Armut leben? Und warum sind die arabischen Regime so impotent und inkompetent? Dies sind gefährliche Fragen." Und das Blatt blickt zurück in die Geschichte: "Als solche Fragen 1948 gestellt wurden, gab es viele politische Umstürze, und Köpfe rollten."

Während die Bevölkerung arabischer Länder die Last der hohen Rüstungskosten tragen muss, verwehren ihr die Herrscher fast alle politischen und zivilen Freiheiten. Die arabischen Staaten stehen heute unter den anti-demokratischen Regionen der Welt mit Abstand an der Spitze. Die überwiegend altgedienten Herrscher zeigen keinerlei Anzeichen dafür, dem Volk die Wahl ihrer Nachfolger zu gestatten. Ausnahmen demokratischer Öffnungen zeigen sich am Golf, im kleinen Bahrain oder im winzigen Katar. In Marokko und Syrien haben die jungen Herrscher die Hoffnungen vieler auf Reformen enttäuscht.

Keine Zivilgesellschaft

Der Anti-Terror-Krieg der USA in Afghanistan, der auch unschuldige Zivilisten traf, hatte wider Erwarten nicht die "arabische Straße" in Aufruhr versetzt. Politologen analysieren seit Wochen dieses unerwartete Phänomen. "Die Antwort lautet: Es gibt keine arabische Straße, die in der Lage wäre, ihre Meinung frei auszudrücken und die Politik ihrer Regierung in irgendeiner Weise zu beeinflussen", stellt der in Damaskus stationierte Politikexperte Ibrahim Hamidi fest. Arabische Regime hätten es über die Jahrzehnte durch intensive Repressionspolitik geschafft, die Bevölkerung vollends zu entpolitisieren. Die Zivilgesellschaft sei fast überall verschwunden. Mit Beginn des nahöstlichen Friedensprozesses 1991 hatten die Amerikaner arabische Regime zu interner Öffnung ermutigt. Doch die meisten Demokratisierungsversuche etwa in Syrien, Ägypten oder Jordanien, wurden wieder gestoppt. Der Ausbruch der Intifada (des Aufstandes der Palästinenser) im September 2000 bot den Autokraten den willkommenen Anlass, die Knute der Repression wieder schärfer zu schwingen, und die USA hatten auch wenig dagegen einzuwenden, damit antiisraelische und propalästinensische Kundgebungen die Gemüter der Menschen nicht noch mehr aufheizten.

Es folgten die Schrecken der Terrorakte des 11. September 2001. Zeigte sich der Westen nach dem Kuwait-Krieg entschlossen, politische Liberalisierung in der arabischen Welt zu fördern, geht es ihm nun darum, die überwiegend amerikakritische öffentliche Meinung zu knebeln, um die US-Strategie gegen den Terrorismus nicht zu stören. Diese neue Position kommt vielen arabischen Regimen gelegen, bietet sie ihnen doch die Möglichkeit, nicht nur Gegner des "Anti-Terror-Krieges", sondern Oppositionelle jeder Couleur klaglos auszuschalten, während sich der Westen - so die angesehene "Human Rights Watch" - in "schändliches Schweigen hüllt". "Die Maßnahmen, die arabische Länder nach dem 11. September gegen Demokratie und Freiheit setzten, waren sehr schlimm", betont Hamidi. In Ägypten nahmen Militärgerichte nach zweijähriger Pause wieder ihre Tätigkeit auf. Fast 300 Angeklagte wurden bisher in drei Verfahren abgeurteilt. Auch Tunesien begann, Verdächtige vor Sondergerichte zu bringen, ebenso Jordanien. In Syrien wurden zahlreiche Aktivisten einer aufkeimenden Bürgergesellschaft Staats-Sicherheitsgerichten übergeben. Politisch bewußten Menschen bliebe laut "Human Rights Watch" nur die verzweifelte Wahl, den Status quo hinzunehmen, sich für das Exil oder für Gewalt zu entscheiden.

Doch das Exil im Westen bleibt den Menschen zunehmend verschlossen. "Die gesamte arabische Welt", so meint der Politologe Abdelwahab El-Affendi, gleicht heute einem Pulverfass, und Sharon hat das Zündholz hineingeworfen."

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