Wut und Ohnmacht unter den Kurden

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Viele Kurden in der türkisch-syrischen Grenzregion ziehen vor allem eine Lehre aus der Tragödie von Kobanê, wo IS-Dschihadisten gegen kurdische Milizen kämpfen: Sie können sich auf niemanden verlassen. Nicht auf den Westen, und auf Erdog ans Türkei schon gar nicht.

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Viele Kurden in der türkisch-syrischen Grenzregion ziehen vor allem eine Lehre aus der Tragödie von Kobanê, wo IS-Dschihadisten gegen kurdische Milizen kämpfen: Sie können sich auf niemanden verlassen. Nicht auf den Westen, und auf Erdog ans Türkei schon gar nicht.

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Der grauhaarige Mann ist aufgeregt. Er steht auf einem Hügel, von dem man die umkämpfte Grenzstadt Kobanê überblicken kann. Es ist ein gefährlicher Ort, man ist hier im Sichtfeld der Kämpfer des Islamischen Staates (IS). Erst gestern habe er von hier mehrere IS-Kämpfer beobachtet, die von der Türkei aus die Grenze nach Syrien überquert hätten. "Als wir sie ausgebuht haben, haben sie sogar Schüsse auf uns abgefeuert." Die türkischen Soldaten, die in einiger Entfernung standen, hätten alles gesehen, die Kämpfer aber nicht aufgehalten. Ärgerlich schüttelt der Kurde den Kopf.

Zu wenig internationale Hilfe

Mit wem man auch spricht in der von Kurden bewohnten türkisch-syrischen Grenzregion, alle teilen eine große Wut auf jene, die "vor diesem stillen Massaker", wie sie es nennen, die Augen verschließen. Luftschläge des Westens? Lächerlich! Erdogans Versprechen, Kobanê nicht im Stich zu lassen? Eine Lüge! So sehen sie das hier.

Im Staub einer verdreckten Straße im von Flüchtlingen völlig überlaufenen Örtchen Suruç sitzt Mohamed Nuh Nebi. Mit leeren Augen starrt er vor sich hin, die Worte kommen ihm nur langsam über die Lippen. "Es war auf einmal Krieg. Rauch, Bombardierungen, die Menschen sind wie Hühner gestorben." Der alte Mann war erst aus Kobanê geflüchtet, als die Kämpfe zwischen IS-Milizen und kurdischen Verteidigern bereits in den Straßen tobten. Mit letzter Kraft konnte er sich in Sicherheit bringen.

Einem kurdischen Helfer stehen die Tränen in den Augen. Die Bilder der letzten Tage und Wochen verfolgen ihn noch immer. "Ohne Schuhe, ohne Kleidung" seien viele Menschen über die Grenze gekommen. "Jetzt sind sie hier, aber wir haben nicht genug, um sie zu versorgen", sagt er. Er selbst arbeitet ehrenamtlich in den Straßen von Suruç - "kurdische Solidarität", wie er sagt. Es sind viele Menschen, die in diesen Tagen hier die Flüchtlinge aus Kobanê unterstützen. Die Bäckereien arbeiten auf Hochtouren, Menschen öffnen ihre Wohnungstüren für Wildfremde. Das Elend bleibt trotzdem groß. Aus der Stadt Diyarbakir ist der Arzt Cengiz Günay nach Suruç gereist, um im örtlichen Krankenhaus zu helfen. Im hellblauen Kittel spricht er als einer der wenigen Menschen hier mit ruhiger Stimme: "Kurdische Kämpfer, aber auch viele Zivilisten sind über die Grenze zu uns gebracht worden. Wir sehen viele Schussverletzungen und Menschen, die durch Explosionssplitter verletzt wurden."

Mittlerweile sind die meisten Flüchtlinge und kurdischen Helfer im türkischsyrischen Grenzgebiet abweisend gegenüber den internationalen Journalisten. Sie haben wohl erkannt, dass auch die in alle Welt ausgestrahlten Bilder ihres Leids nicht viel an ihrer Situation ändern. "Kobanê fällt und niemand tut etwas dagegen", sagt ein Junge.

Hochzeit im Kriegsgebiet

Und doch, es gibt auch so etwas wie Normalität im Grenzland. Nur ein paar Kilometer von der Front findet an diesem Tag eine kurdische Hochzeit statt. An langen Tischen sitzen Verwandte und Freunde im Innenhof, Kinder spielen, im Hintergrund sieht man Rauchfahnen. "Leider gibt es bei dieser Hochzeit keinen Tanz und keine Musik", sagt Mohammed, der junge Bräutigam, "aus Respekt vor den kurdischen Brüdern drüben in Kobanê ". Seine Braut nickt traurig.

Gleich hinter dem Haus der jungen Familie wird es gefährlich. Auch wenn sie nicht unmittelbar an der Grenze wohnen, schlagen hier immer wieder Querschläger ein. Die Männer, die von hier mit Ferngläsern den Kampf um Kobanê beobachten, blicken immer wieder zu den türkischen Panzern auf dem Hügel nebenan. Ordentlich aufgereiht haben sie Kobanê und die türkischsyrische Grenze im Visier. "Sie schauen einfach zu und lassen uns Kurden sterben", ruft ein mit einem Halstuch vermummter Mann. Immer wieder hätten sie in den letzten Wochen und Tagen ihre Wut herausgeschrien. Und die Reaktion der Soldaten? "Die haben uns mit Tränengas vertrieben", erklärt er verbittert. Wiederkommen werden sie trotzdem, um zu sehen, was drüben in Kobanê passiert. "Auch wenn das den Rest der Welt nicht zu interessieren scheint."

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