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Zehn Thesen zu unserer Neutralität

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Im September vergangenen Jahres waren in den „Salzburger Nachrichten“ Teile eines Rohmanuskripts von mir zum Thema „Prinzip Österreich und die immerwährende Neutralität“ zu lesen. Mag der Redakteur noch so findig sein, Auszüge bleiben Auszüge; dem Leser entgeht das Sinnganze. Univ.-Prof. Dr. Fritz Fellner setzte sich in derselben Zeitung mit mir auseinander. Ich mußte verreisen, ohne zu erwidern. Die Redaktion der „Furche“ hatte mich noch im September zu einem Gespräch mit Kollegen Fellner eingeladen und um die Skizze meiner Thesen ersucht. Erst Ende November konnte ich sie einsenden. Die Arbeit soll in der Reihe „Dike“, in der Verlagsgemeinschaft Europa-Pustet, erscheinen. Die nachstehenden Thesen sind fragmentäre Raffungen jener Passagen des Rohmanuskripts, die in das Gedankenfeld Fellners greifen, wie er es in den „Salzburger Nachrichten“ Umrissen hat; sie sind keine Erwiderung, dazu wäre es zu spät, und es geschähe an einem fremden Ort.

Österreichs Neutralität ist ein Thema, das nicht oft und vielseitig genug in der Öffentlichkeit besprochen werden kann. Wir suchen noch immer unser Neutralitätsprofil. Gespräche von der Art geben den drängenden Fragen Kontur und helfen sie klären.

Nicht Selbstwert und Selbstzweck

Wie das Recht insgesamt, so ist jede Teilrechtsordnung, der statischen Struktur zum Trotz, dynamisch, zeit- und raumbedingt. Wenn in der Folge vom Neutralitätsrecht die Rede ist, so gilt das Gesagte bloß als kurzgefaßte Wiedergabe der herrschenden Lehre hier und jetzt, will sagen; das Recht kann und wird sich fortentwickeln, ebenso die Lehre. Wo ich über sie hinausgehe, erwähne ich es.

1. Zur Klärung der materialen Seite des Neutralitätsbegriffes, wie er dem heutigen Neutralitätsrecht zugrunde liegt, sei angemeirkt; Neutralität ist weder Selbstwert noch Selbstzweck. Sie erfüllt ihren Sinn um ranghöherer Werte und Zwecke willen, als da sind: der nationale Friede, der international-regionale, etwa der europäische Friede, der Weltfriede, die Würde des Menschen, die Menschenrechte.

Die Natur des Menschen, wie die Satzung der Vereinten Nationen, diie Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 und im besonderen Maße die zwei Weltpakte über die Grundfreiheiten des Menschen vom 16. Dezember 1966 sie ansprachen, gibt dem Frieden Norm; der Friede gibt jedem Institut des Völkerrechts dag Geleit. Neutralität, soll sie ihren Sinn nicht vertun, enthüllt sich als Gegenteil von dem, wofür sie bisweilen gehalten wird: Sterilität, Passivität, Immobilismus, Eigennutz, Gesinnungs- armut, Ruhekissen Vollends immerwährende Neutralität treibt zur Aktivität für alle Herrschaft des Friedens, des Rechts, der Menschenwürde.

2. Es sind formal scharf auseinanderzuhalten: die Neutralität als Institut des Kriegsrechts als einer Teilordnung des Völkerrechts und die immerwährende Neutralität als Dauereinrichtung des Friedensrechts als einer Teilordnung des Völkerrechts.

Jene ist die Neutralität im klassischen, althergebrachten oder im engen, strengen Sinn, die „gewöhnliche“, „einfache“ Neutralität, einfach: die Neutralität. Die andere nennt man die „ständige“, „dauernde", „ewige“ Neutralität und so fort (obwohl damit auch Nuancen gegeben sind, worauf hier nicht eingegangen wird). Die Neutralität setzt einen bestimmten Krieg voraus, Krieg im Sinne des Völkerrechts. Sie lebt mit ihm auf, erlischt mit ihm, ist in ihrer Anlage ephemer. Der Krieg ist im formal-logischen Sinn ihre „notwendige Bedingung“. Keine notwendige Bedingung ist ein konkreter Krieg für die immerwährende Neutralität. Man kann sagen: im Gegenteil, sie erfüllt ihren Sinn in der Abwesenheit des Krieges; sie ist auf den Frieden angelegt. Ein Mittel zum Frieden ist, daß das Gebiet eines bestimmten Staates, das konkurrierende fremde Mächte neuralgisch finden, als unantastbar erklärt wird (entweder einseitig oder mehrseitig, das heißt: Vertrags- oder quasivertragsmäßig, wobei der Staat des nämlichen Gebietes auch in die Rolle des Objekts gedrängt werden kann).

Grundsätzlich jeder Eingriff schafft den Tatbestand der unerwünschten Störung des erwünschten Gleichgewichts der Kräfte, kann das Völkerrecht, namentlich auch das Neutralitätsrecht verletzen, bedenkt man, daß sich über den Bereich des Neutraldtätsrechts im strengen Sinn, der die einfache Neutralität erfaßt, hinaus ein Neutralitätsrecht für die immerwährend neutralen Staaten entwickelt.

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