Zensurierte Zeitzeugin

Werbung
Werbung
Werbung

Der ORF "korrigiert" das Porträt der Halleiner Widerstandskämpferin Agnes Primocic.

Im Jahr 1945 rettet die Halleinerin Agnes Primocic 17 Häftlinge aus dem KZ-Außenlager Hallein; erst 2000 ernennt sie die Stadt Hallein zur Ehrenbürgerin. Im Februar 2002 gibt es für die Widerstandskämpferin im vollbesetzten Halleiner Stadtkino standing ovations im Rahmen der Premierefeier des Video-Projektes "Agnes Primocic - Nicht stillhalten, wenn Unrecht geschieht": Menschen jeden Alters applaudieren, sind gerührt, gestärkt, wollen, dass diese Zeit nie wieder kommt. Am 5. Mai 2004 strahlt ORF2 dieses Porträt aus. Aber nicht so, wie die Kinobesucher den Film zwei Jahre zuvor gesehen haben: Der Anfang wurde geschnitten - und damit ein wesentlicher Gegenwartsbezug gekappt.

"Zensur im ORF" titelt Regisseur Uwe Bolius seine Stellungnahme, die Projektleiterin Kerstin Dresing meint: "Ich bin enttäuscht, der ORF ist auch ein offizielles Sprachrohr des Medienösterreichs' - wenn dort Redakteurinnen den Film beschneiden, ist das so, als würde sich das offizielle Österreich wieder auf die andere Seite stellen. Es scheint, dass das offizielle Österreich wieder etwas korrigieren muss."

Die 99-jährige Protagonistin Agnes Primocic ist zwei Tage nach Ausstrahlung der um wichtige eineinhalb Minuten gekürzten Fassung entsetzt: "Hört es denn nie auf? Kann die Wahrheit nicht einfach für sich stehen. Wenn ich nur ein paar Jahre jünger wäre, würde ich mich gegen diesen Eingriff in den Film wehren."

Lebenslanger Widerstand

Unter "ORF-TIPPS des Tages" weist das Fernsehprogramm-Heft Tele am 5. Mai 2004 auf den Film hin: "Ein Porträt der heute 99-jährigen Halleinerin Agnes Primocic, einer Symbolfigur des österreichischen Widerstands", Sendetermin: 23.15 Uhr. "Mein Wecker ist kaputt, auf den habe ich mich nicht verlassen, ich habe mich von einem Bekannten anrufen und aufwecken lassen, damit ich ja nicht den Film versäume. Vom Beginn bin ich entsetzt, ich habe bis zum Schluss geschaut, aber diesen Eingriff am Anfang, den kann ich einfach nicht verstehen", schildert die Hauptperson ihren Zugang.

Viele Menschen haben diesen Dokumentarfilm trotz des späten Ausstrahlungstermins gesehen: "Ein berührendes Porträt einer Widerstandskämpferin, eine mutige Frau, die das eigene Wohlergehen stets hinter ihren Kampf gegen den Faschismus stellte." Eine Aussage, die richtig ist. Die aber dort endet, wo eben dieser Film von Uwe Bolius, Robert Angst und Kerstin Dresing rund um Agnes Primocic beginnt. Bei der neuerlichen Verleumdung 2002. Bei dem Vorwurf der Geschichtsfälschung, ausgesprochen von einem damaligen Stadtrat der FPÖ. Denn Gerhard Cirlea, 2001 FPÖ-Stadtrat in Hallein, verschickt nicht nur an den Freiheitlichen Gemeindekurier seine Warnungen in Form eines Leserbriefes. Er bezieht sich auf die ORF Sendung Brennpunkt vom 8. Juni 2001, in dem die damals 96-jährige Agnes Primocic als eine von mehr als 100.000 Österreichern porträtiert wurde, die während der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand gegen das Regime geleistet hatten. Seine Anschuldigungen wiegen schwer, zeihen sie doch mehrere Persönlichkeiten der Geschichtsverfälschung. "In der ORF-Sendung Brennpunkt vom 8. 6. wurde über eine 96-jährige Agnes Primocic berichtet, die angeblich, nach ihrer Behauptung, 17 Häftlingen aus dem KZ Hallein das Leben gerettet hätte. Diese Behauptung muss unwahr sein, da es in Hallein niemals ein Konzentrationslager gegeben hat. Der ORF hat somit seine Sorgfaltspflicht gröblichst verletzt, indem nicht gewissenhaft recherchiert wurde."

Agnes Primocic dazu: "Man hat mich des Lügens beschuldigt, es war so, als hätte ich beinahe ein Jahrzehnt lang im Rahmen des Zeitzeugenprogramms des Unterrichtsminsteriums junge Menschen belogen, ihnen falsche Geschichte(n) erzählt." Christian Stöckl, Bürgermeister von Hallein, liest damals stehend im Rahmen der Stadt-Gemeindevertretung eine Ehrenerklärung gegenüber der Ehrenbürgerin Agens Primocic vor. Ein Zitat daraus: "Frau Agnes Primocic, Ehrenbürgerin der Stadt Hallein, ist auf Grund ihres Wortes und der genannten Quellennachweise über jeden Verdacht erhaben, Geschichtsfälschung begangen, oder gegenüber dem ORF falsche Angaben gemacht zu haben."

Exakt der Einstieg rund um diese Aufregung im Halleiner Gemeinderat, basierend auf Archivmaterial des ORF-Landesstudios Salzburg, fällt in der ORF-Ausstrahlung vom 5. Mai dieses Jahres weg, es bleibt ein noch immer motivierendes, berührendes Porträt einer außergewöhnlich mutigen, entschlossenen Frau. Aber es fehlt die fortwährende Kränkung von Agnes Primocic, einer Kommunistin und Lebensretterin, einer Kämpferin. "Ich würde alles wieder so machen, ich könnte nicht anders."

Der Bezug zur damaligen Gegenwart ist ebenso gekappt, wie für viele Seher der ORF-Ausstrahlung die Brisanz der Korrektur vorerst verborgen bleibt: Agnes Primocic beginnt zu erzählen, von damals, von der Armut, der Kindheit, dem Ausgestiftetwerden.

Viel Unrecht gesehen

"Noch immer ist mir die Grausamkeit des Nationalsozialismus bewusst, und ich wache oft schweißgebadet auf... Es hat Leute gegeben, die sagen, ich hätte es mir selbst zuzuschreiben, dass ich eingesperrt wurde. Es wäre mir nicht passiert, wenn ich ruhig gehalten hätte", resümiert Primocic 1983 in einem Interview mit Heidi Gold. Kerstin Dresing lernt "die Agnes" erst anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft kennen: "Sie hat gefragt, Ja, wer sind denn Sie, ich kenne Sie nicht?' Es war ihr anfangs nicht vorstellbar, dass ich keine Kommunistin bin und mich so für ihre Sache interessiere. Sie hat mich ernst genommen, das ist ein großes Kompliment."

Uwe Bolius und Robert Angst sind stolz auf ihren Film. Kerstin Dresing merkt während des Drehs im Steinbruch, wie nah der Widerstandskämpferin die Erinnerungen sind: "Ich bin seit damals - 1945 - jetzt zum ersten Male wieder hier."

List in Rotkreuzuniform

Der Notruf "Retten Sie uns, sonst werden wir erschossen" erreicht sie 1945, sie zieht die Rotkreuzuniform an, radelt in den Steinbruch und erreicht mit einer List die Freilassung der Häftlinge: "Wenn ich das damals nicht getan hätte, ich wäre nie mehr im Leben froh geworden."

Als 16-Jährige kam sie in die Halleiner Tabakfabrik als Arbeiterin, wurde dort Betriebsrätin; diese Generation der Arbeiterinnen geht als die "Tschickweiber von Hallein" in die Geschichte ein. Zwischen 1934 und 1945 wurde Agnes Primocic mehrmals verhaftet, Nachbarinnen versorgten ihre beiden kleinen Mädchen, retteten sie vor dem Verhungern. Ihnen setzt auch der Film von Uwe Bolius und Robert Angst ein Andenken: Viele haben damals nicht weggesehen, wenn Unrecht geschah. Am 5. Mai 2004 konnten viele aktuelles Unrecht aus dem Jahr 2001 nicht sehen, es wurde ihnen vorenthalten.

Nicht stillhalten, wenn Unrecht geschieht

Die Lebenserinnerungen von Agnes Primocic.

Hg. v. Michaela Zehetner.

Salzburg: Akzente Verl. 2004.

Für LehrerInnen in Klassenstärke zu bestellen bei: Servicestelle Politische Bildung, service@politische-bildung.at

AGNES PRIMOCIC

Nicht stillhalten, wenn Unrecht

geschieht

Der ungekürzte Film ist zu bestellen bei Robert Angst Filmproduktion

Tel.: 01/2572473

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung