Zuschauer und Arbeitstiere

Werbung
Werbung
Werbung

Was tun die österreichischen Abgeordneten im Parlament eigentlich? Diese Frage stellen sich Bürger wohl des Öfteren, wenn sie während laufender Sitzungen leere Bankreihen auf dem Fernsehschirm sehen. Jetzt liegt eine detaillierte Studie über die Arbeit der Volksvertreter vor. Einiges Überraschende findet sich darin.

Der einzelne Bürger zählt im österreichischen Parlament. Skeptisch? Dann machen Sie doch die Probe aufs Exempel: Allein stellen Sie sich an einem nasskalten Jännertag vor das Hohe Haus; allein warten Sie auf die täglich um 11 und 15 Uhr angebotenen Besucherführungen; allein befallen Sie schließlich Zweifel, ob der Rundgang unter diesen Umständen stattfinden wird. Aber auch allein, besser exklusiv, werden Sie schließlich durch Theophil Hansens Prachtbau geführt.

Die griechische Antike ist Pate gestanden, erklärt der Begleiter. Seine Uniform gleicht der eines Polizisten, auf der Mütze prangt der Staatsadler, nur das Parlamentslogo - vier bunte Säulen mit Dach - auf seiner Krawatte erinnert daran, dass er die Legislative und nicht die Exekutive repräsentiert. An dorischen, ionischen und korinthischen Säulen vorbei führt der Rundgang zum Sitzungssaal des ehemaligen Abgeordnetenhauses. Ein Prunkstück. Heute tagt hier die Bundesversammlung. "Tintenburg" haben die Wiener in der Monarchie über den Ort gespottet, erklärt der Führer. Damals seien die Abgeordneten nach Kronländern, nicht aber nach Parteizugehörigkeit zusammen gesessen. Da konnte es schon einmal vorkommen, dass ein Politiker der einen Fraktion dem Landsmann der anderen Partei den Inhalt seines Tintenfasses in den Kragen leerte.

Heute ist diese Gefahr gebannt. Zum einen haben die Tintenfässer ausgedient, doch dafür ließe sich im Streitfall gewiss Ersatz finden. Zum anderen aber sitzen die Nationalratsabgeordneten heute nicht mehr nach ihrer Herkunft, sondern nach Couleur getrennt zusammen. Gleiche Parteizugehörigkeit bedeutet aber nicht zwangsläufig gleiche Ideologie. Zu diesem Ergebnis kommt unter anderem eine Studie des Wiener Politikwissenschafters Wolfgang C. Müller (siehe Interview Seite 14), der mit seinem Team mehr als drei Jahre lang die individuellen Präferenzen und das politische Verhalten der österreichischen Abgeordneten untersucht hat.

Die politischen Präferenzen der Abgeordneten ein und derselben Fraktion weichen oft erheblich voneinander ab, sind Müller & Team überzeugt. Das geht soweit, "dass mehr als ein Drittel der Abgeordneten jeder der drei großen Fraktionen bei der Auswahl von zwei aus vier vorgegebenen Zielen ein ,falsches Ziel' wählt, nämlich eines, das traditionell der jeweils anderen Hälfte des politischen Spektrums zugeordnet wird". Viele Abgeordnete würden sogar dem Durchschnitt einer anderen Partei näher stehen als dem ihrer eigenen Partei. Auf die Frage, ob es im Parlament andere Mehrheitspositionen gäbe, wenn die Abgeordneten entsprechend ihrer individuellen Präferenzen und nicht entlang von Parteilinien abstimmen würden, heißt es in der Studie: "Die Antwort ist durchwegs Ja."

Besonders interessant ist dabei, dass im Nationalrat bei sozio-ökonomischen Themen (Abbau von Einkommensunterschieden, staatliche Steuerung der Wirtschaft, Sicherung des Sozialstaats und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit) Mehrheiten links der Mitte existieren. In sozio-kulturellen Fragen (Geschlechterkonflikt, Drogenpolitik, Kriminalitätsentwicklung, Konflikt über Immigration und Konflikt zwischen Bürgerrechten und Staat) hingegen "sind alle drei großen Parteien konservativ, wobei die SPÖ der Mitte des politischen Spektrum am nächsten ist und die FPÖ die konservative Extremposition bezieht". Einzelnen Abgeordneten scheint dieser Zusammenhang durchaus bewusst zu sein. In der Studie wird in diesem Sinn eine Stimme aus der SPÖ zitiert: "Ich habe gelernt, dass es viele kritische Themen gibt, zum Beispiel Frauenanliegen, wo ich denke, dass Männer durch den Klubzwang etwas mittragen, was nicht ihre Meinung ist. Wir würden viel mehr noch sehr viel stärkere konservative Positionen einnehmen, wenn es keinen Klubzwang gäbe. Ich denke hier auch an den Homosexuellenparagraphen."

Die Abgeordneten der Grünen präsentieren sich im Unterschied zu den drei anderen im Nationalrat vertretenen Parteien ideologisch deutlich homogener. In diesen Tagen von besonderer Brisanz erweist sich aber noch ein anderes Ergebnis der Untersuchung aller Abgeordneten: In der Frage um die Bewahrung nationaler Eigenständigkeit oder die volle Teilnahme am europäischen Integrationsprozess ist die Standardabweichung bei den politischen Präferenzen in der FPÖ besonders groß. Das lässt erkennen, "dass die EU-kritische Parteilinie unter den Abgeordneten nicht besonders gut verankert ist". Heißt das zum Schluss etwa gar, dass ohne Klubzwang auch heute blaue Abgeordnete ihren blauen Kollegen in EU-Erweiterungsfragen liebend gerne blaue Tinte in den Kragen schütten würden?

Die Antwort auf diese Frage muss auf später verschoben werden, denn die Parlamentsführung geht weiter. Rund fünf Stunden braucht er für einen Kontrollgang durch das ganze Parlament, erzählt der Begleiter. 14, 15 Kilometer müssen dabei zurückgelegt werden. Aber nicht nur der Weg im Hohen Haus, sondern auch der ins Parlament kann lang und beschwerlich sein, wie es der frühere Zweite Präsident des Nationalrats, Heinrich Neisser, bei seinem Ausscheiden aus der Politik bestätigte: "Wer ins Parlament will, muss sein Wohlverhalten jahrelang unter Beweis stellen. Und dann muss er es weiter beweisen, damit er wieder aufgestellt wird."

Den Weg ins Herzstück der österreichischen Demokratie, dem Plenarsaal des Nationalrats, hat die Kleinstgruppe mittlerweile zurückgelegt. "Einem Theater gleich hat Theophil Hansen den Saal geplant, die Akustik ist phänomenal", weiß der Parlamentsführer. An diesem Tag hört man nur den Staubsauger, mit dem ein Arbeiter durch die Sesselreihen fährt. Das Theater ist verwaist. Die "Zuschauer", sie kennzeichnet die niedrigste Aktivität beim Einbringen von Anträgen und Anfragen und bei den Debattenbeiträgen, laut Abgeordnetenstudie immerhin 47 Prozent aller Abgeordneten, fehlen genauso, wie die "Berichterstatter" (28 Prozent). Die "Showhorses" (13 Prozent) werden sich für die Zwischenzeit eine andere Bühne gesucht haben. Sie sind häufige Redner, bringen aber auch mehr Anträge ein als die bisher erwähnten Typen. Die "Workhorses" (8 Prozent) werden - wie bei ihnen auch sonst üblich- im Hintergrund arbeiten. Sind sie wieder da, übertreffen sie aber auch als Redner deutlich Zuschauer und Berichterstatter. Und wo die "Vorzeigeparlamentarier" an diesem Tag sind, dass weiß wohl keiner so genau. Sie sind mit 4 Prozent auch sonst sehr schwer zu finden. Es sind jene Abgeordnete mit den meisten Anträgen, den meisten Anfragen und den weitaus meisten Debattenbeiträgen.

Aufgrund dieser Auflistung der Rollenverteilung im Parlament eine Rangordnung der Fleißigen und Faulen aufzustellen, wäre jedoch verfrüht. Schaut man noch, ob die im Parlament besonders aktiven Abgeordneten im Wahlkreis nur leichte Last tragen und umgekehrt die Zuschauer im Parlament im Wahlkreis die eigentlichen Leistungsträger sind, ergibt sich ein etwas anderes Bild: Ein Drittel aller Abgeordneten ist jetzt als "Professionelle Parlamentarier" zu bezeichnen. Ein weiteres Drittel tritt vor allem als "Wahlkreisbetreuer" in Erscheinung, 24 Prozent sind "Politikspezialisten", werken also vor allem im Parlament selbst und 11 Prozent, in absoluten Zahlen 20 Abgeordnete, betrachten laut Studie ihr Mandat "als Accessoire". Ob dieser Typ von Mandataren im Nationalrat am richtigen Ort ist, darüber kann man diskutieren, sagt Studienautor Müller. An diesem nasskalten Jännertag ist aber außer dem Parlamentsführer niemand zum Debattieren anwesend. Und auch der wird Sie, wieder am Besuchereingang abgeliefert, sehr schnell allein zurück lassen. Jedoch die Gewissheit bleibt: Der einzelne Bürger zählt im österreichischen Parlament.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung