In der Diskussion über die zukünftige Gestalt der Kirche braucht es manchmal auch einen Anschauungsunterricht. Einen solchen Anschauungsunterricht erlebten vor kurzem der Präsident der österreichischen Caritas und seine Begleiter während einer Reise ins notleidende Bulgarien. Sie sahen, was Kirche nicht ist - und sie sahen, was Kirche sein kann.
Erstes Beispiel: ein Dorf im Süden des Landes. Zwischen den ärmlichen Häusern steht ein nagelneues Gebäude im Stil "teuer, aber geschmacklos". Ein Priesterseminar, mit Hilfe deutscher und amerikanischer Sponsoren gebaut. Stolz zeigt der Hausherr, Pater M., sein Werk. Plüschbezogene Stühle, Steinplattenböden, schwere Refektoriumstische. Nur: das Haus ist leer. Kein Priesteramtskandidat weit und breit. In der nahen Bezirksstadt gibt es ebenfalls ein Seminar, ebenso leer. In Bulgarien sind die Katholiken eine winzige Minderheit. Ob man hier nicht das Caritaszentrum einrichten könnte, das der Pater sich wünscht, fragt der österreichische Caritaschef. Antwort: Nein, es gehe doch nicht an, daß die Armen in diesem schönen neuen Haus herumliefen. Man trennt sich eher kühl.
Zweites Beispiel: ein anderes Dorf in derselben Gegend. Die Polyklinik hier ist vor kurzem geschlossen worden, jetzt amtiert zweimal die Woche eine junge Ärztin im Pfarrhaus. In einer Küche werden Lebensmittel ausgegeben. Viel Andrang. Caritasmitarbeiter sorgen dafür, daß die Ärmsten etwas bekommen. Ohne die Hilfe aus der Pfarre, sagt eine alte Frau, wüßte sie nicht, wie sie den Winter überstehen sollte. Wer nicht aus dem Haus kann, dem wird das Essen gebracht. Nachbarn schauen auf die Kranken. Und natürlich fragt niemand, wer katholisch ist und wer nicht.
Pfarrer F., der mit seinen Helfern das alles organisiert hat, hat noch etwas anderes zustandegebracht: daß in diesem bettelarmen Dorf für noch Ärmere gesammelt wurde. Das gehöre eben auch zum Christentum, sagt er. Die Sonntagsmesse in der kleinen Kirche ist bummvoll. Die Mädchen im Chor singen wie die Engel. Es gibt eine Hochzeit. Nachher wird, obwohl es eiskalt ist und schneit, auf dem Kirchplatz noch getanzt.
Zweimal Kirche heute. Zwei Illustrationen zum Thema "die Kirche und die Menschen". Ziemlich nachdenklich fahren die Österreicher nach Hause.
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