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Zwischen Prinzip und Vorteil

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Die Wahlen vom 1. März 1970 haben Österreich wieder einmal ein Ergebnis beschert, das die Fragen einer Koalitionsbildnng in den Vordergrund stellt. Auch die Lamentatio über das Wahlrecht gehört zu den üblichen Reaktionen der Sozialistischen Partei Österreichs nach Nationalratswahlen. Der in der Wahlnacht vom siegreichen Parteivorsitzenden Doktor Kreisky geäußerten Bemerkung, unter allen Umständen „ein neues Wahlgesetz durchzubringen“, dürfte diesmal allerdings nicht nur dem Charakter einer üblichen Kritik am bestehenden Wahlsystem zukommen, vielmehr liegt darin ganz offensichtlich die Ankündigung eines ernsthaften Versuches, die Wahlrechtsreform in das Paket eines politischen Programmes aufzunehmen. Womit allerdings noch nicht gesagt ist, daß solche Bestrebungen von Erfolg begleitet sein werden. Denn die bisherige Praxis in Sachen Wahlrechtsreform gibt Anlaß zu einiger Skepsis. Daß nicht nur eine zwischenparteiliche Einigung zu diesen Problemen schwierig sein wird, sondern zunächst erst einmal ein innerparteilicher Konsens über diese Fragen erzielt werden muß, scheint ziemlich klar zu sein. Aus diesem Grunde sind einige Gedanken darüber angebracht, was man realistischerweise auf dem Sektor der Wahlrechtsreform in nächster Zeit wird erwarten können.

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Die Wahlen vom 1. März 1970 haben Österreich wieder einmal ein Ergebnis beschert, das die Fragen einer Koalitionsbildnng in den Vordergrund stellt. Auch die Lamentatio über das Wahlrecht gehört zu den üblichen Reaktionen der Sozialistischen Partei Österreichs nach Nationalratswahlen. Der in der Wahlnacht vom siegreichen Parteivorsitzenden Doktor Kreisky geäußerten Bemerkung, unter allen Umständen „ein neues Wahlgesetz durchzubringen“, dürfte diesmal allerdings nicht nur dem Charakter einer üblichen Kritik am bestehenden Wahlsystem zukommen, vielmehr liegt darin ganz offensichtlich die Ankündigung eines ernsthaften Versuches, die Wahlrechtsreform in das Paket eines politischen Programmes aufzunehmen. Womit allerdings noch nicht gesagt ist, daß solche Bestrebungen von Erfolg begleitet sein werden. Denn die bisherige Praxis in Sachen Wahlrechtsreform gibt Anlaß zu einiger Skepsis. Daß nicht nur eine zwischenparteiliche Einigung zu diesen Problemen schwierig sein wird, sondern zunächst erst einmal ein innerparteilicher Konsens über diese Fragen erzielt werden muß, scheint ziemlich klar zu sein. Aus diesem Grunde sind einige Gedanken darüber angebracht, was man realistischerweise auf dem Sektor der Wahlrechtsreform in nächster Zeit wird erwarten können.

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Die bisherigen Versuche der Parteien, das geltende Wahlrecht zu ändern, waren problematisch und zum Teil mangelhaft. Zwar gab es zwischen 1963 und 1965 in Österreich eine Wahlrechtsreformdiskussion, die zu parlamentarischen Initiativanträgen seitens der ÖVP und der SPÖ führte. In beiden Entwürfen wurde der Versuch unternommen, das bestehende Wahlrecht auf einfachgesetzlicher Ebene (durch Novellierung der Nationalratswahlordnung) in einzelnen Punkten zu ändern. Der ÖVP-Antrag sah u. a. neben einer Neueinteilung der Wahlkreise die Einführung der Briefwahl sowie einer 5-Prozent-Klausel auf Bundesebene als Erfordernis für eine Teilnahme an der Reststimmenverteilung (auch ohne Grundmandat) vor. Die SPÖ verlangte in ihrem Initiativantrag (im wesentlichen eine verbesserte Neuauflage des Olah-Entwurfes aus dem Jahre 1963) u. a. folgendes:

• Erhöhung der Mitgliederzahl des Nationalrates von 165 auf 180;

• Ersatz der bestehenden 25 Wahlkreise durch 9 Landeswahlkreise;

• Schaffung von zwei Wahlkreisverbänden (statt bisher vier);

• Einführung einer 5-Prozent-Klausel.

Das Schicksal beider Anträge wurde durch die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Innsbruck bestimmt. Diese wies nämlich in einem Fakultätsgutachten nach, daß beide Entwürfe „eine verfassungsmäßige Grundlage für eine Reform der Nationalratswahlordnung“ nicht abgeben können. Damit hatten die Intentionen um eine Wahlrechtsreform im Bereich der politischen Realität ein Ende gefunden. In der Folge blieb es vor allem den Autoren, die sich um das Thema „Demokratiereform“ bemühten, vorbehalten, sich zur Wahlrechtsreform zu äußern.

Wahlrechtsreform: Wie?

Es besteht kaum ein Zweifel, daß das Wahlrecht neuerlich politischer Diskussionsgegenstand werden wird. Noch sind konkrete Vorschläge nicht gemacht worden. Allerdings sieht das am 12. ordentlichen Bundesparteitag der ÖVP im November 1969 beschlossene Arbeitsprogramm im 1. Teil Reformen des Wahlrechtes vor. Parteiofflziell werden darin vier Punkte angeführt: Einführung der Briefwahl; erleichterte Möglichkeiten für die Ausstellung von Wahlkarten (diese Forderung ist in der Zwischenzeit in einer Novelle zur Nationalratswahlordnung bereits erfüllt worden); Erleichterungen bei Reihung und Streichung; Einführung von Einerwahlkreisen für die Wahl der Hälfte der Nationalratsmitglieder (die andere Hälfte wird über eine Parteiliste gewählt). Der letztgenannte Vorschlag soll als Zwischenstufe zur Einführung eines mehrheitsbildenden Wahlrechtes dienen.

Über die Vorschläge der SPÖ ist im Augenblick nichts Näheres bekannt. Broda-Gratz plädieren in ihren Vorschlägen (Für ein besseres Parlament — für eine funktionierende Demokratie, 2. Auflage) für ein Mischsystem zwischen Einerwahlkreisen (80 bis 90) und Bundes-Kandidatenlisten — sie fordern eine Erhöhung der Mitgliederzahl im Nationalrat auf 200 —, doch betonen sie ausdrücklich den privaten Charakter ihrer Vorschläge. Somit besteht noch immer das Fragezeichen hinter dem „Wie“ einer Wahlrechtsreform.

Dies gilt auch für die ÖVP, da das Wahlergebnis vom 1. März 1970 dieser Partei zweifellos einiges vom „animus reformandi“ punkto Wahlrecht genommen hat. Allerdings könnte eine Analyse des Wahlresultates vom 1. März 1970 in mancher Hinsicht zu einem Überdenken bisheriger starrer Positionen in bezug auf die Wahlrechtsreform führen. Die Tatsache, daß die Verluste der ÖVP in ihren Hochburgen weitaus größer waren als in denen der Sozialisten, daß vor allem im Westen den Sozialisten große Erfolge gelangen und hinsichtlich der ÖVP-Verluste ein West-Ost-Gefälle festzustellen ist, läßt die Argumentation, daß die Einführung des Mehrheitswahlrechtes in Form von Einerwahlkreisen im Westen den Sozialisten jede Chance nehmen würde, der ÖVP im „roten Wien“ jedoch keinerlei Erfolgsaussicht gäbe, nicht mehr unbedingt überzeugend scheinen. Die überraschend hohe Mobilität des österreichischen Wählers, die bei den letzten Wahlen zum Vorschein kam und im Prinzip als durchaus positives Symptom einer Verlebendigung der Demokratie zu werten ist, gibt jeder Partei bei einem stark personalisierenden Wahlrecht erhöhte Chancen.

Nicht zuletzt werden auch das Ergebnis der für das Jahr 1971 festgesetzten Volkszählung sowie etwaige daraus folgernde Veränderungen der Zahl der in den einzelnen Wahlkreisen zu vergebenden Mandate von Bedeutung sein.

Dennoch dürfte kein Zweifel bestehen, daß auch bei den kommenden Parteivorschlägen in erster Linie kurzfristige taktische Erwägungen im Vordergrund stehen werden, und erst in zweiter Linie — wenn überhaupt — das Bemühen, die österreichische Demokratie vom Wahlrecht her aufzuwerten. Sagte doch vor kurzem ein Parteifunktionär mit aller Deutlichkeit: „Wegen eines Prinzips gibt man einen handfesten politischen Vorteil nicht auf.“ Daß sich die Prinzipien unseres Wahlrechtes nur in Übereinstimmung zwischen den beiden großen Parteien ändern lassen, ergibt sich aus der österreichischen Bundesverfassung. Art. 26 ^ gleichsam die Magna Charta riw^hta^reichischen Wahlrechtes — enthält die Grund-

Sätze, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden können. Ja sogar mehr noch: Eine Änderung der tragenden Maximen unseres Wahlrechtes, die in die genannte Verfassungsbestimmung einbezogen sind — gleiches, unmittelbares, geheimes und persönliches Wahlrecht, Prinzip der Verhältniswahl — wäre als Gesamtänderung der Bundesverfassung anzusehen und müßte den für einen solchen Fall vorgesehenen verfassungsrechtlichen Verfahrensregeln unterworfen werden, d. h., daß diese Änderung durch eine Volksabstimmung bestätigt werden müßte.

Läßt man die Grundsatzbestimmungen der Verfassung über das Wahlrecht unangetastet, sind die Möglichkeiten, eine Wahlrechtsreform im Wege der einfachen Gesetzgebung durchzuführen, begrenzt. Der einfache Gesetzgeber hat die verfassungsrechtlichen Programmsätze — wie im vorher genannten Gutachten der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck ausgeführt ist — nach den Absichten der Verfassung zu verwirklichen. Das bedeutet vor allem auch eine wesensgemäße Konkretisierung und Präzisierung des Verhältniswahlrechtes. Das Wesen dieses Wahlrechtes bedeutet, daß allen politischen Parteien von zahlenmäßig erheblicher Bedeutung eine Vertre-tretung im Parlament nach Maßgabe ihrer Stärke gesichert wird. Die Bindung an diesen Grundsatz läßt von vorneherein kaum mehr als Retuschen des bestehenden Wahlrechtes möglich erscheinen. Solche Retuschen könnten allerdings eine durchaus erwünschte Lockerung und Verlebendigung des Wahlsystems bewirken. So wäre es etwa möglich, den sogenannten Naßmacherplan (nur ein Ermittlungsverfahren nach dem d'Hondtschen System, wodurch ein „Verstärkungseffekt“ eintreten

Photo: Oürer würde, so daß die Großparteien mehr Mandatsprozente als Stimmprozente erzielen) oder die Einführung des Vorzugsstimmensystems, nach dem der Wähler auf der Parteiliste eine bestimmte Zahl von Wahlwerbern mit Vorzugsstimmen versehen kann, auf einfachgesetzlichem Wege zu verwirklichen. Die Möglichkeiten, daß die SPÖ im Verein mit den Freiheitlichen gegen den Willen der ÖVP eine Wahlrechtsreform durchführt, sind daher begrenzt. Sollte es zwischen den beiden großen Parteien zu einer Koalition kommen, wird eine Einigung über die Durchführung oder Nichtdurchführung einer Wahlrechtsreform sicherlich zur Conditio sine qua non für ihr Zustandekommen gemacht werden. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge wird eine Änderung des bestehenden Wahlsystems in Richtung Mehrheitswahlrecht bei keiner der im Parlament vertretenen politischen Parteien auf Gegenliebe stoßen. So besehen wäre es übertriebener Optimismus, sich eine Wahlrechtsreform großen Stils zu erwarten. Sicherlich mag die Frage berechtigt sein, ob die Zeit für einen Übergang zum Mehrheitswahlrecht in Österreich bereits reif ist. Das Wahlergebnis vom 1. März 1970 läßt verschiedentlich Ansatzpunkte erkennen, daß der österreichische Wähler sehr wohl jenen Momenten höhere Beachtung schenkt, die im Mehrheitswahlrecht in verstärktem Maße in Erscheinung treten: nämlich die Möglichkeit zu stabilen Regierungsbildungen und das Hervortreten der Persönlichkeit der Kandidaten. Auf längere Sicht gesehen wird sich daher auch in der modernen Demokratie österreichischer Prägung ein mehrheitsbildendes Wahlrecht als taugliches Mittel erweisen, um den politischen Prozeß zu dynamisieren. Allerdings bedarf es für diese Art der Wahlrechtsreform einer Risikobereitschaft der politischen Parteien und des Willens, über den eigenen Schatten zu springen.

Bereits im Juli 1965 hat die „Furche“ unter dem Titel „Mut zur großen Wahlrechtsreform“ folgendes geschrieben: „Dabei sollte man doch gerade in den demokratischen Großparteien wissen, daß ein Nutzen für die Demokratie auch zum Vorteil für die demokratischen Parteien ist, ohne die eine Demokratie nicht existieren kann.“ Dieser Wunsch besitzt auch im Jahre 1970 dieselbe Aktualität.

* Dr. Heinrich Neisser ist Staatssekretär im Bundeskanzleramt und hat sich in Fragen der Demokratiereform innerhalb der ÖVP — or allem mit dem Buch „Mut zur Reform“ — stark profiliert.

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