Michel Barnier: Monsieur Brexit in den Fußstapfen von Valéry Giscard d‘Estaing
„Caprice des Dieux“ heißt der französische Schimmelkäse, mit dem die Brüsseler ihr EU-Parlamentsgebäude vergleichen. Die Parallele beschränkt sich nicht nur auf die Architektur – die Launen kapriziöser Götter werden auch dortigen Europapolitikern nachgesagt. Besonders einem eilte dieser Ruf voraus, als es vor 20 Jahren darum ging, der EU eine Verfassung zu geben: Valéry Giscard d‘Estaing. Arrogant, unnahbar, eingebildet… – die Negativ- Liste für den Präsidenten des EU-Reformkonvents war lang, der Widerstand gegen den früheren französischen Präsidenten in diesem Amt groß.
„Wir brauchen keinen neuen Suppenkaspar, die Mitgliedsländer meistern die Ratspräsidentschaft bravourös“, schimpfte der damalige Vertreter des österreichischen Bundeskanzlers gegen d‘Estaing. Am Ende konnte aber der hochgewachsene Franzose mit aristokratischem Auftreten den heute nicht mehr wegzudenkenden EU-Ratspräsidenten durchsetzen, die Mehrheit des Konvents hinter sich scharen und Europas Verfassung prägen. Genauso wie er mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt die deutsch-französische Freundschaft vorantrieb, oder die beiden Duzfreunde die EU Gipfel sowie G7-Treffen mit ihren Kamingesprächen begründeten. Obwohl in seiner Amtszeit als französischer Präsident in den 1970er Jahren zentrale gesellschaftliche Reformen gelangen, blieb er für die Franzosen immer eine Art Don Quichotte im Élysée-Palast. Am 3. Dezember verstarb „VGE“ mit 94 Jahren. Staatspräsident Emmanuel Macron würdigte ihn als „großen Europäer“.
Ein Ruf, den sich gerade ein anderer Franzose dabei ist, zu erarbeiten: Michel Barnier. In jungen Jahren unterstützte er d‘Estaing – dessen Rivale Jacques Chirac nahm ihm das zwar übel, konnte und wollte aber auf Barnier weder in verschiedenen Ministerämtern noch in der EU-Kommission verzichten. Bereits als EU-Binnenmarktkommissar nannte ihn The Daily Telegraph den „gefährlichsten Mann Europas“. Im Brexit-Finale bewährt sich Barnier für Europa jedoch als „meine beste Entscheidung“ (Jean-Claude Juncker), wenn er im Gezerre um ein Abkommen verspricht: Die EU werde für eine Vereinbarung mit Großbritannien „niemals ihre Zukunft opfern“.
Der Autor ist freier Journalist.
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