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Abriß einer biblischen Theologie

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Dieses Werk, das in seinen mittelalterlichen Exemplaren nur vereinzelt den Namen „Biblia Pauperum“ trug, ist eine tiefdurchdachte und planmäßig abgewogene Zusammenstellung von Szenen des Alten und Neuen Testamentes, die zueinander im Verhältnis von Vorbild und Erfüllung stehen. Maßgebend- für die Zusammenstellung ist die Heilsgeschichte des Neuen Testamentes von der Verkündigung an Maria bis zum Tode Marias. In 34 Bildern sind die wichtigsten Ereignisse des Neuen Testamentes dargestellt. Jedem dieser 34 neutestament-lichen Bilder sind zwei Szenen aus dem Alten Testament beigegeben, in denen das neutestamentliche Ereignis „vorgebildet“ ist. Je vier Propheten des Alten Testamentes halten Schriftbänder mit ihren Voraussagen zum Neuen Testament.

Jede dieser 34 Bildgruppen ist symmetrisch angeordnet. In der Mitte das Medaillon mit der Szene aus dem Neuen Testament, zu beiden Seiten die alttestamentlichen Vorbilder, in den Zwickelflächen zwischen Mittelmedaillon und Seitenbildern die Gestalten der Propheten.

Der Text zu den Bildern, ebenfalls symmetrisch angeordnet, ist sehr kursä und prägnant gehalten. Das Mittcl-medaillon trägt gewöhnlich eine kurze Inhaltsangabe der Szene. Über den seitlichen Bildern ist in wenigen Zeilen das alttestamentliche Ereignis geschildert und der Zusammenhang mit der neutestamentlichen Szene erklärt. In drei „leoninischen“ Hexametern — das sind Hexameter mit Binnenreim — sind nochmals die drei dargestellten Szenen kurz charakterisiert.

Nicht nur die einzelnen Bildgruppen sind systematisch aufgebaut, sondern auch ihre Verteilung auf die Seiten des Buches ist genau durchdacht. Die erste Seite ist leer. Jede der folgenden Seiten enthält zwei Bildgruppen übereinander, so daß beim aufgeschlagenen Buch jeweils vier solche Bildgruppen im Blickfeld liegen, die sowohl ihrem Inhalt nach als auch in ihrem künstlerischen Aufbau aufeinander abgestimmt sind. So bleiben für die letzte Seite nur noch die zwei Szenen nach der Himmelfahrt Christi, die Herabkunft des Heiligen Geistes und der Marientod.

Man weiß heute nicht mehr, wer diesen Abriß einer biblischen Theologie zusammengestellt hat. Er ist ein Gegenstück zu den verschiedenen „Summen“, das sind umfangreiche theologische Lehrsysteme, die im 13. Jahrhundert in Frankreich und in Deutschland geschrieben wurden; ein Gegenstück auch zu den nach ganz bestimmten Programmen geschaffenen Figurenzyklen an den Fassaden gotischer Kathedralen oder Bilderfolgen an gotischen Glasfenstern. Dem späteren Verbreitungsgebiet der Handschriften nach dürfte die Biblia Pauperum im südlichen Deutschland oder in Österreich entstanden sein. Mehr als 80 Handschriften davon sind erhalten, die alle dem 14. und 15. Jahrhundert angehören. 15 davon enthalten nur den Text, alle anderen auch die Bilder.

Die meisten dieser Handschriften tragen keinen Titel. Manche tragen als Titel „Speculum humanae salvatio-nis“ (Spiegel des menschlichen Heiles) oder „Figurae typicae veteris atque antitypicae novi testamenti“ (vorbildliche Figuren des Alten und dem Vorbild entsprechende Figuren des Neuen

Testamentes). Eine einzige bilderlose Handschrift aus dem Jahre 1398 wird als „Biblia Pauperum“ bezeichnet. Denselben Titel trägt — von jüngerer Hand beigesetzt — eine aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammende Bilderhandschrift in der Bibliothek von Wolfenbüttel. Und diese Wolfen-bütteler Handschrift ist es, von der aus das Werk endgültig seinen Namen erhielt. Diese Namengebung geschah 1769 in einer gelehrten Publikation von E. H. von H e i n e c k e n, die allgemein anerkannt wurde, obwohl im Jahre 1773 der Wolfenbütteler Bibliothekar G. E. L e s s i n g auf die Zufälligkeit und das jüngere Datum des Buchtitels in der Bibliothek von Wolfenbüttel hinwies. Da sich der Name nunmehr im Verlaufe von bald zwei Jahrhunderten eingebürgert hat, vird man ihn beibehalten, obwohl er geeignet ist, falsche Vorstellungen zu erwecken.

Eine „typologische“ Folge

Denn die „Armen“, für die ein solches Werk geschrieben und mit Bildern versehen wurde, konnten nicht gut die materiell Armen sein, deren beschränkte Mittel den Erwerb eines so reich illustrierten Buches kaum erlaubt hätten. Noch weniger konnten es die „Armen im Geiste“ sein. Denn für das Verständnis des in lateinischer Sprache geschriebenen Werkes war eine mehr als durchschnittliche theologische Bildung vorausgesetzt. Hingegen gab es für die materiell armen Geistlichen im Mittelalter ein anderes

Werk, das mit Recht als „Armenbibel“ bezeichnet wurde: eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Punkte des biblischen Berichtes in Merkversen, ohne Bilder, meist auf 20 bis 30 Seiten zusammengedrängt. Von diesem biblischen Hilfswerk, das in zahlreichen Handschriften erhalten ist, wurde also der Name für ein Werk übernommen, das weit höhere Anforderungen stellte.

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