Abschied von meiner Wahrheit

Werbung
Werbung
Werbung

Auf die alte Pilatus-Frage "Was ist Wahrheit?" hat sich, beinahe 2000 Jahre später, der deutsche Dramatiker Bert Brecht mit einer Antwort gemeldet: "Wahrheit ist ein Kind der Zeit".

Dass mir beide Zitate jetzt durch den Kopf gehen, hat seine Gründe: Ich bin mir in der Flüchtlingsfrage der eigenen "Wahrheit" nicht mehr sicher. Das könnte mit dem Zeitablauf zu tun haben. Und zudem mit einem Phänomen, das meines Wissens noch nicht philosophisch beackert ist: Wahrheit ist auch ein Kind der Dimension. Was das heißt? Als der Massenandrang Flüchtender unsere Grenzen erreichte, war mein Herz - trotz allen Mitgefühls -in freudiger Erregung: Endlich konnte das kleine, recht bedeutungslos dahindämmernde Österreich wieder zeigen, was in ihm steckt - an Mitmenschlichkeit und Organisationskraft. Endlich musste sich dieses Land, in dem die Sonne allzu schnell über den Schrebergärten untergeht, wieder unmittelbarer mit dem Leid dieser Welt befassen. Endlich war da eine Aufgabe, die es zu erfüllen galt und die dann ja auch erfüllt wurde: an unseren Grenzen, Bahnhöfen - und anderswo.

Fazit: Ja, Schlagbalken auf! Und Geschwisterlichkeit vor Bequemlichkeit!

Das war (zusammen mit vielen anderen) meine "Wahrheit". Sie hörte sich weit schöner an, als die unserer Nachbarn im Norden und Osten. Und auch als manche Gegenstimme im eigenen Land.

Was inzwischen anders geworden ist? Nein, nicht die Angst vor Kriminalität und Terror; alle Statistiken widerlegen sie. Nicht die Sorge wegen einer anderen Religion und Kultur, wenngleich ein Bezug zur Dimension der Fluchtbewegung nicht zu leugnen ist. Und sicher nicht das Mitgefühl; wer sich heute noch immer in die Helferkette einreiht, verdient doppelten Dank!

Anspruch und Wirklichkeit

Aber: Mehr und mehr beginne ich zu verstehen (und also an meiner bisherigen "Wahrheit" herumzubasteln), dass unkontrollierter Ein-oder Durchmarsch angesichts der Ausmaße des Problems nicht länger sein kann. Dass wir, umgeben von Staaten, die zunehmend sichtbare und bürokratische Sperren errichten, in eine nicht bewältigbare "Staulage" geraten, organisatorisch und humanitär. Sie erzwingt Notlösungen, die nicht verantwortbar sind. Sie zerreibt die Verantwortlichen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, untergräbt die Regierbarkeit und bedroht EU-Europa. Sie führt latent zu Stimmungen, die humanitäre Mindeststandards unterwandern.

Ich spüre also, wie der gewaltige Flüchtlingstreck "meiner" Wahrheit langsam den Boden entzieht. Und wie auch die Zeit mitspielt: Tragisch spät peilt Europa erst jetzt menschengerechte Lösungen an seinen Außengrenzen an. Eine halbwegs glaubhafte Friedenssuche hat kaum begonnen.

Ach ja, Bert Brechts Zitat heißt eigentlich "Die Wahrheit ist ein Kind der Zeit, nicht der Autorität". Was das im konkreten Drama bedeuten könnte, das müsste noch genauer bedacht werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung