G emeinden solidarisieren sich mit ihrem beliebten Geistlichen, dem Missbrauch vorgeworfen wird: Auch was jüngst rund um die Suspendierung zweier steirischer Pfarrer berichtet wurde (vgl. Artikel oben rechts), gehört zu den beobachteten Verhaltensmustern in den Missbrauchs-Causen, die Wunibald Müller in seinem Buch „Verschwiegene Wunden. Sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erkennen und verhindern“ darstellt. Der Theologe und Psychotherapeut, der gemeinsam mit dem Benediktiner Anselm Grün das Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach leitet, ist in seiner therapeutischen Arbeit seit Jahren mit sexuellem Missbrauch durch und in katholischen Institutionen konfrontiert. Sein Buch gehört für Kirchenleute wie für alle Interessierten zu den wichtigsten Erscheinungen auf dem Gebiet der Analyse und Aufarbeitung des Themas. Wie man Missbrauch erkennen kann, welche Konstellationen der Persönlichkeit und der Institution dazu führen, und was Kirche und Gesellschaft tun müssen, damit Missbrauch möglichst hintangehalten wird: Darüber liefert Müller Einblicke, die jeder, der sich übers Thema äußern oder eine Meinung bilden will, kennen sollte. Keine Frage: Wie jemand zum Missbrauchstäter wird, ist ein komplexes Geschehen. Und es handelt sich nicht um schwarz oder weiß. Aber es gibt sehr wohl Genzen, die weder in einer seelsorglichen noch in einer pädagogischen Beziehung überschritten werden dürfen. An einer Darstellung dieser Grenzen versucht das auch gut zu lesende Buch ebenso wie am Blick auf die Leidtragenden – und zu diesen gehören eben nicht nur die unmittelbaren Opfer, sondern auch das Umfeld, die Familie, oder – siehe oben – die Gemeinde.
Klar ist auch nach der Lektüre diese Buches, dass es sich weitgehend um Störungen der psychosexuellen Entwicklung und deren unzureichende Diagnose im Ausbildungsprozess handelt, die viele tatsächliche oder potenzielle Missbrauchstäter heranreifen ließ. Müller legt die institutionellen Wunden ebenso offen wie die persönlichen – und verfällt dennoch nie in eine verdächtigende Generalisierung. Auch was der Zölibat oder Homosexualität mit den Causen zu tun hat und was nicht, spricht er offen an. Und dass der Autor – abseits von allen platten Polemiken gegen den Zölibat – wie viele andere zur Ansicht gelangt, die katholische Kirche dürfe sich nicht um die Auseinandersetzung mit der ehelosen Lebensform ihrer Priester, aber auch mit der Zugangsverweigerung für Frauen zum Priesteramt, drücken, spricht gleichfalls für sich.
Ein Bischof spricht Klartext
Eine zweite deutschsprachige Neuerscheinung empfiehlt sich nicht minder zur Lektüre, auch wenn sein Autor innerkirchlich keinen leichten Stand hat: Geoffrey Robinson, Jg. 1937, war von 1984 bis 2004 katholischer Weihbischof in Sydney. Der Kirchenrechtler hatte sich unter anderem jahrelang für einen menschlichen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen eingesetzt. 1994, als die Missbrauchsskandale in Australien erstmals besonders diskutiert wurden, beauftragte ihn die dortige Bischofskonferenz mit der Aufarbeitung. Weil er den Umgang seiner Kirche mit den Missbrauchsfällen nicht mittragen konnte, trat er als Leiter der australischen „Bischöflichen Kommission zur Aufklärung sexuellen Missbrauchs durch Kleriker“ zurück und emeritierte 2004 auch als Weihbischof.
Sein 2007 erschienenes, nun auf Deutsch vorliegendes Buch „Macht, Sexualität und die katholische Kirche“ versteht sich als „Grundlagenanalyse“ der katholischen Kirche und ortet in ihr vielfältige Ursachen für „sexualisierte Gewalt“. Eine kraftvoll prophetische Analyse, die wenig ausspart und vor allem die strukturellen Fehlentwicklungen der Kirche aufs Korn nimmt. Bischof Robinson versucht das ganze Buch hindurch, seine schonungslose Kritik immer an den biblischen Befund rückzubinden und kommt zum – nicht überraschenden, aber einsichtig argumentierten – Ergebnis, dass es in seiner Kirche zu einer grundlegenden Änderung im Umgang mit der Macht und mit der Sexualität kommen müsse (dass das eine und das andere miteinander zu tun haben, wird auch in Robinsons Analyse sonnenklar). Ebenso wenig überraschend, dass Hans Küng das Buch als „von trauriger Aktualität“! qualifiziert, während die australische Bischofskonferenz feststellte, Bischof Robinson stelle darin die „Autorität der katholischen Kirche in Frage, die Wahrheit endgültig zu lehren“.
Sammelband als „Work in Progress“
Die Psychotherapeutin Rotraud A. Perner hat den Sammelband „Missbrauch: Kirche – Täter – Opfer“ herausgebracht. Perner selbst spricht darin die Abhängigkeiten und Unterwerfungsstrategien an, die sich in der Sexualität manifestieren. Sie plädiert für eine Aufhebung der Verjährungsfrist bei Sexualdelikten und für schonungslose Aufklärung: Denn nur diese könne den „Mühlstein um den Hals“ der Täter abwerfen helfen. Weitere Beitragende sind u. a. der Theologe, Soziologe und Psychologe Alfred Kirchmayr, der „Priester ohne Amt“ und Psychotherapeut Richard Picker, Herbert Kohlmaier von der „Laieninitiative“ sowie – neben zwei Texten von Josef Haslinger – der Linzer Akademiker- und Künstlerseelsorger Peter Paul Kaspar mit einem „Fragment“ über „Erotik in der Kirche“. Angesichts der Auseinandersetzung stellt dies ein Buch gewordenes Work in Progress dar, das einen multidisziplinären Blick in die komplexe Thematik erlaubt und auf weitere Reflexion en hoffen lässt.
Lektüre gegen den Strich
Schließlich hat sich auch der Innsbrucker Tyrolia-Verlag in seiner „Editio Ecclesia semper reformanda“ der Frage angenommen: „Sexualität und Christentum“ ist die deutsche Ausgabe einer Schrift des New Yorker anglikanischen Pfarrers Raymond J. Lawrence Jr., das sich aus einer stark protestantischen Sicht und mitunter sehr spekulativ an jesuanische und theologische Zugänge zur Sexualität herangeht, aber als Lektüre „gegen den Strich“ berechtigt erscheint: Denn diesem Buch ist mit allen anderen hier angeführten Neuerscheinungen gemein, dass das Missbrauchsthema – nicht nur, aber auch – in der katholischen Kirche nur dann nachhaltig anzugehen ist, wenn sich die Institution ebenso wie die Menschen trauen, Sexualität, Macht, Strukturen und deren Korrelationen wirklich zu diskutieren.
Verschwiegene Wunden. Sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erkennen und verhindern
Von Wunibald Müller. Kösel Verlag 2010. 224 Seiten, kt. e 15,40
Macht, Sexualität und die katholische Kirche
Von Bischof Geoffrey Robinson. Publik-Forum Edition 2010. 320 Seiten, kt., e 19,15
Missbrauch: Kirche – Täter – Opfer
Hg. von Rotraud A. Perner. LIT-Verlag 2010. 244 Seiten, kt, e 20,50
Sexualität und Christentum. Geschichte der Irrwege und Ansätze zur Befreiung
Von Raymond J. Lawrence Jr. – Tyrolia Verlag 2010. 290 Seiten, geb. e 19,95
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