Absonderung, ja bitte!

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Was tun, wenn die Klosterpforte zur Drehtür wird - und trotzdem keiner bleibt? Kontemplation als "kreative Störung" in heutigen Gesellschaften.

Sabine S., 46, lebt heute in derselben Stadt, wo sie früher Biologie und Chemie für das Lehramt an Gymnasien studierte. Anstatt in den Schuldienst einzutreten, schloss sie ein Studium in Philosophie und Pädagogik an. An ihrer Doktorarbeit über einen französischen Pädagogen arbeitet sie seit fünfzehn Jahren. Der berüchtigte Fall des "Berufsstudenten?"

Wenn, dann auf eigene Kosten: Sabine besitzt fast nichts, kein Auto, keinen Fernseher, nicht mal ein Telefon. Wer sie kontaktieren oder besuchen will, muss sich auf den Postboten verlassen. Ihre Einzimmerwohnung mit Gartenzugang befindet sich zwar in der Stadt, könnte aber eine Eremitenklause sein. Sie selbst findet den Vergleich nicht unzutreffend. "Mein Ziel ist es nicht, ein bestimmtes Diplom oder andere Auszeichnung einzuholen; es geht mir auch nicht um Bildung an sich. Es geht mir darum, möglichst einfach zu leben."

Zur traditionellen Paarbindung der übrigen Gesellschaft hat Sabine nie eine Neigung gezeigt. Ihr Weg ist der Weg des Verzichts, der Reduktion im Dienste der Konzentration. Sie ist eine moderne Asketin. In der klassischen Antike hätte man sie "Philosoph" genannt, das heißt, einen Menschen, für den das Leben im Geiste aufgehoben ist. Im christlichen Zeitalter übernahmen diese Stellung die Eremiten und Mönche, später auch Nonnen. Dementsprechend betrachtet der christliche Philosoph des 12. Jahrhunderts, Peter Abaelard, die antiken Philosophen als "die wahren Mönche". Für das Mittelalter wie für die Antike fiel geistige Entfaltung mit materiellem und körperlichem Verzicht in eins.

Kontemplationslose Zeit?

Schon zu Abaelards Zeiten machte sich eine neue Gelehrtenkultur breit, und der Ort der geistigen Suche hat sich auf dem Weg in die Moderne bekanntlich vom Kloster auf die Universität verlagert. Aber heute florieren an den Universitäten Fächer, die sich viel eher zweck-und erwerbsgebunden als dem Geiste gewidmet wissen, und die einst zentralen Geisteswissenschaften belegen höchstens noch einen schlecht versorgten Posten an der imaginären Peripherie. Davon profitiert aber die gesellschaftliche Position der Klöster keineswegs; sie ist marginaler denn je. Das Durchschnittsalter in den kontemplativen Orden liegt in der Regel über 75, und die Zahl der Menschen im Ordensleben befindet sich seit drei Jahrzehnten auf einer kontinuierlich steilen Talfahrt. Von drohender Vergreisung zu sprechen, wäre untertrieben: Diese beherrscht schon stark den praktischen Alltag der Gemeinschaften.

Hat die heutige Gesellschaft kein Bedürfnis mehr nach einer kontemplativen Lebensform? Andere Entwicklungen besagen das Gegenteil: Es gibt heute kaum ein Kloster, in dem die Besucherzahlen nicht eben so steil ansteigen wie das Durchschnittsalter der Insassen. Die neuen Gäste kommen für geistliche Beratung, Tage der stillen Einkehr, Meditationskurse, Atemtraining und sogar Veranstaltungen in "meditativem Bogenschießen". "Der Ruf nach einer Neuorientierung ist überall da", seufzt Schwester Monica, Mitglied einer benediktinischen Gemeinschaft von elf Schwestern: "Aber wer soll noch darauf antworten?"

Klösterliche Bestseller

Neben regelmäßiger Betreuung solcher Gäste führt Monica auch die klösterliche Buchhandlung. Hier dürfen unter anderem die Bestseller der klösterlichen Meditationswelle nicht fehlen, Anleitungsbändchen vom Benediktiner-Star Anselm Grün oder vom Jesuiten und Zen-Lehrer Niklaus Brantschen. Beide wissen sich von einer großen Fangemeinde außerhalb der Klostermauer bewundert und befolgt - zu denen sich nicht wenige wirtschaftliche Führungskräfte zählen. Grün und Brantschen haben Meditationskurse, zugeschnitten auf die Bedürfnisse gestresster Manager, zu einer Spezialität ausgeformt. Ob diese Bemühungen eine Rechtfertigung des Klosterlebens oder eher ein Selbstopfer darstellen, ist unklar.

Aber sie lassen an einer Feststellung keine Zweifel: Zwar führen die "Schnupperangebote" nicht dazu, dass etwa eine Sabine S. - die oft schon bei Schwester Monica zu Besuch war - sich an ein klösterliches Leben binden würde. Nichtsdestoweniger ist der Rückgang der Klosterinsassen mit dem Phänomen der immer leereren Kirchenbänke nicht gleichzusetzen.

Dies bestätigt aus soziologischer Sicht die Kirchenhistorikerin Gisela Muschiol von der Universität Bonn: "Hier ist etwas Grundsätzlicheres zu berücksichtigen, denn eine gesellschaftlich sanktionierte Form kontemplativer Lebensführung ist eigentlich, historisch und kulturell gesehen, eine Konstante der Menschheitsgeschichte." Was unsere Zeit von anderen wohl unterscheidet? "Diese Lebensformen verlangen eine Bindungsfähigkeit, die den Menschen heute immer weniger zu nutzen scheint - ob in Fragen des Berufs, der Ortsgebundenheit oder der Zweierbeziehungen. Das entspricht unseren Idealen von Freiheit und Selbstverwirklichung."

Die Geschichte lässt aber gerade in diesen Idealen keinen Gegensatz zum Ordensleben erkennen. Denn wenn die kontemplative Lebensform eine menschliche Konstante darstellt, dann eigentlich als ständig erneuerte Provokation. Es scheint ein soziologisches Gesetz zu sein, dass der Versuch, radikal von der gesellschaftlichen Norm abzuheben, eine entsprechende Faszination auf die Zurückgelassenen ausübt, die diese dann nachzieht. Aus dieser Provokation oder "kreativen Störung" (wie Muschiol formuliert) heraus ist die monastische Lebensform immer wieder zu neuem Leben erwacht. Auch und gerade im Mittelalter, als die Mönche und Schwestern bis zu zwei Prozent der Gesamtbevölkerung betragen konnten, sind aus der Konfrontation mit veränderten gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder neue Ordensideale hervorgegangen.

Von der "Norm" abgehoben

Um 1100 zog Robert von Arbrissel durch ganz Frankreich mit dem Aufruf zu einer radikalen Nachfolge der Armut Christi. Robert vermochte mit seiner Botschaft besonders Frauen anzusprechen - und zwar ohne jede Rücksicht auf Herkunft oder bisherige Lebensführung. Das Spektakel seiner bunt zusammengewürfelten Gefolgschaft aus Prostituierten, Bettlerinnen, mittellosen Witwen, aber auch adligen Frauen in beträchtlicher Zahl wurde der Kirche bald zum Ärgernis. Sie sah sich genötigt, Bauland und Mittel anzubieten, unter der Bedingung, Robert würde seine Gefolgschaft unter ein Dach und eine Ordensregel bringen. Die daraufhin gegründete Abtei Fontevraud ist eine der größten Erfolgsgeschichten des mittelalterlichen Ordenswesens; sie brachte innerhalb von fünfzig Jahren beinahe fünfzig Tochterhäuser hervor.

Heute bekannter ist die Gründungsgeschichte der Franziskaner, die den neuen Bedürfnissen einer wachsenden städtischen Bevölkerung entgegenkamen. Anstatt, wie frühere monastische Bewegungen, wieder die Abgeschiedenheit zu suchen, sahen die neuen "Bettelorden" des 13. Jahrhunderts ihre Aufgabe darin, sich unters arme Volk der Städte zu mischen, ihre Misere direkt zu teilen, und so Glaubwürdigkeit und Nähe zu erreichen. Zudem predigten sie, was von der Kirche streng untersagt war und auch sonst nicht zum monastischen Selbstverständnis gehörte. Bald aber stellte der Papst das mächtige Charisma der neuen Bewegung direkt unter eigenen Schutz.

Absonderung statt Outreach

Am Anfang der neueren Geschichte des Ordenslebens steht ein ähnlicher Neubeginn. Denn Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Klöster im Zug der Napoleonischen Kriege beinahe in ganz Europa aufgelöst worden, ihre Insassen wurden verfolgt, teils verhaftet und in Fällen äußersten Widerstands sogar hingerichtet. Das Wiederaufleben des Ordenslebens, erinnert Muschiol, ging damals sehr oft aus sozialen Notständen in den großen Bevölkerungszentren hervor. Es waren wieder einmal Frauen, die in die überaus zahlreichen neuen Kongregationen einströmten, wo sie "in karitativer Tätigkeit auch ein Stück Emanzipation fanden".

So gesehen, sollten die heutigen Klöster sich viel weniger um "Outreach" kümmern und viel mehr um Absonderung. Sabine S. harrt nicht zuletzt mangels solcher charismatischen Erneuerung in ihrem Einzeldasein aus. "Was ich sehe, ist eine wirtschaftlich bedingte Anpassung, zu der alle gleichermaßen gezwungen werden, die Klöster genauso wie die übrigen Menschen." Dabei erlangt die dreifache Forderung des benediktinischen Gelübdes - endgültige Bindung, Abkehr von der Welt, und Gehorsam - vor dem Hintergrund der heutigen Gesellschaft nur noch größere Radikalität. Ihr kreatives Störungspotenzial mag auch zu dem gehören, was dieser am meisten fehlt.

Der Autor ist freier Publizist und Literaturwissnschafter und lebt in der Schweiz.

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