Habermas - © Foto: APA / Louisa Gouliamaki

Habermas' spätes Werk: Alles, nur nicht „fromm“

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Im Großwerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ folgt Jürgen Habermas den Spuren einer „Genealogie des nachmetaphysischen Denkens“ entlang der historischen Debatten zu Glauben und Wissen.

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Im Großwerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ folgt Jürgen Habermas den Spuren einer „Genealogie des nachmetaphysischen Denkens“ entlang der historischen Debatten zu Glauben und Wissen.

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Große Fensterfronten, klare Formen, moderne Kunst: Hier ist Platz für hellsichtiges, großes Denken, für kritische Einsprüche und mutige Entwürfe.

Seit 40 Jahren lebt und arbeitet Jürgen Habermas in Starnberg in Oberbayern. Schnörkellose architektonische Moderne in zweifellos bester Wohnlage, die sich auch in der Klarheit der Gedankenwelt des inzwischen 90-jährigen Philosophen widerspiegelt. Aktuellster Erweis dessen ist sein neuestes Opus magnum, das in der vergangenen Woche erschienene zweibändige Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“: ein Parforce-Ritt durch die Philosophiegeschichte unter den Vorzeichen des Diskurses von Glauben und Wissen.

Philosophie-Crashkurs

Einer der seltenen Gesprächs­termine mit Jürgen Habermas über sein neues Buch gerät zum dreistündigen Philosophie-Crashkurs bei Kaffee und Kuchen; bei „leichtem Gebäck“, wie er vorher schreibt. Doch was Habermas da entfaltet – im Gespräch wie auch im neuen, 1750 Seiten starken Buch – ist alles andere als leichtes Gebäck: Es ist Schwarzbrot fürs Hirn. Denn es geht um alles, was der Fall ist, und um ein Quäntchen mehr: Es geht ihm da­r­um, den dunklen Wurzelgrund der abendländischen Philosophie auszuleuchten, also jene Diskurskonstellationen zu rekonstruieren, durch die hindurch sich das säkulare Denken aus dem Klammergriff der Religion und der Theo­logie befreite und zur Ausbildung der modernen säkularen Philosophie beigetragen hat.

Um das aufzuzeigen, arbeitet sich Habermas – einem Maulwurf der Vernunft nicht unähnlich – durch Epochen und Zeitalter, durch historische Quellen und längst verflossene Diskussionen; ausgehend von der sogenannten „Achsenzeit“ – jener von Karl Jaspers beschriebenen epochalen Zeit sozialer, gesellschaftlicher, politischer, aber auch geistesgeschichtlicher Umbrüche zwischen dem 8. und 2. Jahrhundert v. Chr. – über die Symbiose von Glauben und Wissen im christlich aufgeladenen Platonismus, über Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Luther bis hin zur „Wegscheide“ der Philosophie: zur historischen Konstellation Kant versus Hume und den Folgen in Form von Hegel, Marx und Kierkegaard.

Es geht Jürgen Habermas dar­um, den dunklen Wurzelgrund der abendländischen Philosophie auszuleuchten.

Was Habermas bei diesem Parforce-Ritt durch die Philosophiegeschichte eindrucksvoll herausstreicht – und was zugleich vielen Vertretern seiner eigenen Zunft nicht schmecken dürfte – ist die Tatsache, dass es gerade auch religiöse Entwicklungsschübe waren, die durch die Versprach­lichung des Sakralen zur Emanzipation der säkularen Philosophie beitrugen: Bei Augustinus erstarkt das Subjekt als sündiges Gegenüber zu Gott; Thomas erscheint als Jongleur, der die Bälle von religiösem und Weltwissen noch geschickt in der Luft zu halten vermag, Luther wird zum Motor der Subjektphilosophie schlechthin und Kant zum genialen Steuermann, der auf dem Meer der reinen Vernunft in dem Wissen segelte, sich bei der Navigation auf einen weiterhin bestirnten Himmel verlassen zu können.

Eine „nicht-defaitistische säkulare Vernunft“ wisse darum, so brachte Habermas diese Beob­achtungen an anderer Stelle auf den Punkt, dass die „Entweihung des Sakralen“ in den Religionen und den kirchlich bzw. theologisch dominierten Diskurs-Konstellationen selbst ihren Anfang nahm, indem die Religion nämlich selbst dazu beitrug, dass „Magie entzaubert“, der „Mythos überwunden, das Opfer sublimiert und das Geheimnis gelüftet“ worden sei.

Darüber hinaus wird der kundige Leser viele Motive wiedererkennen, wie etwa den Gedanken eines bleibend geöffneten Türspaltes zwischen den Räumen der Philosophie und der Religion. Darauf läuft schließlich auch Habermas’ Abschlussplädoyer hinaus, nach dem die säkulare Moderne sich zwar „aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet“ habe, die Vernunft jedoch „mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern“ würde.

Übersetzung ins Profane

Dass die Abwehr dieser Gefahr alles andere als eine philosophische Trockenübung ist, zeigt Habermas unter Verweis auf den religiösen Ritus auf: „Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt – und solange hält sie auch für die säkulare Vernunft die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung ‚ins Profane‘ harren.“

Das liest sich – bei allen Mühen, die das Riesenwerk selbst dem geneigten Leser abverlangen – durchaus stringent, als würde diese Version einer Geschichte der Philosophie keinen Widerspruch dulden. Tatsächlich weiß Habermas sehr wohl um die Schwächen des eigenen Entwurfs, etwa um den offenbaren Mangel an Sekundärliteratur. Auch dürfte sein Versuch, die zerstreuten Mosaiksteine einer kohärenten Geschichtsphilosophie ohne jedes teleologisch überzeichnete Pathos neu zusammenzufügen die eigene Zunft zum Widerspruch reizen.

Wie bei Adorno und Horkheimer drängt auch beim späten Habermas die Religion wieder stärker in den Fokus. ‚Einspruch!‘, ruft Habermas …

Tief sinkt der Denker ins Sofa, hinter ihm wandfüllende, moderne Malerei. Kurzes Verschnaufen bei einem Schluck Kaffee. Der Blick wandert entlang wohlgeordneter Bücherwände. Nur einzelne, ins Auge stechende Publikationen wie ein abgegriffener Band „Protest!“ oder ein Stapel Frankfurter Hefte“ auf dem Couchtisch erinnern daran, dass die augenscheinliche Bürgerlichkeit zugleich den Schutzraum für freies, alle bürgerliche Spießigkeit durchbrechendes Denken darstellt.

Parallelen zu seinen Lehrern Max Horkheimer und Theodor W. Adorno drängen sich auf – auch ihnen bot die bürgerliche Herkunft jenen Freiraum, den es braucht, um aus der philosophischen Tradition Funken zu schlagen für eine Neuorientierung in Zeiten einer aus den Fugen geratenen Moderne.

Unbehagen, sich zu Religion zu äußern

Und wie bei Adorno und Horkheimer, so drängt auch beim späten Habermas die Religion immer wieder stärker in den Fokus. „Einspruch!“, ruft Habermas angesichts dieser Lesart dazwischen und man merkt sein Unbehagen, sich öffentlich zum Thema Religion zu äußern. Schließlich sei er nicht nur religiös weitgehend unmusikalisch, er möchte – wie es scheint - auch jeden Eindruck vermeiden, der ihn als altersfrommen Denker erscheinen lässt. Sein neuestes Werk bietet diesbezüglich genügend Stoff: Schließlich ist es kein theologisches oder gar religiöses Werk, sondern zuallererst eine Positionsbestimmung innerhalb der Philosophie; also eine Selbstverständigung darüber, was eine Philosophie heute noch aus guten Gründen aussagen kann, um das kränkelnde Projekt der Moderne zu verteidigen.

Zugleich aber räumt Habermas im Gespräch ein, dass er gerade von der Lektüre religiöser Klassiker viel gelernt habe – gewiss nicht im religiösen Sinne, sondern als Philosoph. Ein wichtiger, ein wesentlicher Unterschied! Aha-Erlebnisse nötigten ihm etwa die Lektüre des Augustinus ebenso ab wie jene Luthers oder gar Karl Rahners. Es habe ihn beeindruckt, wie stark die katholische Theologie selbst in den Diskurs nachmetaphysischen Denkens verwoben war – und wie wichtig es daher aus philosophischer Sicht sei, den Blick weit zu halten und auch an jene Bereiche, die früher mal Metaphysik genannt wurden, zumindest noch als einen Wissensbestand zu erinnern, aus dem die Vernunft sich herausgeschält hat.

Dann der unvermittelte Schwenk ins Persönliche: „Nun muss ich Sie aber auch etwas fragen: Liege ich mit meiner These zur religiösen Praxis richtig? Ist der Kultus nach wie vor das Rückgrat einer gläubigen Exis­tenz und der Kirche?“ – Der Ritus als Ausdruck einer lebendigen Religiosität ist es, der Habermas interessiert. Was geschieht, wenn gläubige Menschen beten, die Berührung mit dem Trans­zendenten suchen? Die unbedingten Bindungskräfte, die der Religion entspringen – sie faszinieren und irritieren den kritischen Denker nach wie vor; auch in seiner abschließenden These, dass die Religion nur so lange beanspruchen könne, „ein Pfahl im Fleisch der Moderne“ zu bleiben, so lange sie sich auf eine „Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann“.

Nach drei Stunden sind Kaffee und Kuchen verzehrt und der Kopf gleichermaßen erschöpft wie erfüllt. Ich stehe am Bahnsteig in Starnberg, die nahe Kirchturmuhr schlägt zur vollen Stunde und ruft zur Abendmesse, so als wollte sie die Thesen des Philosophen augenzwinkernd kommentieren. Wird sich Habermas mit diesem Werk dem Sog der Interpreten widersetzen können, die ihn tatsächlich stärker, als es ihm lieb ist, in die Nähe der Religion rücken? Zweifeln lässt ein Blick in die Bestsellerliste des Online-Händlers „Amazon“: Dort rangierte das Buch bereits am ersten Tag seiner Veröffentlichung auf Platz 1 – allerdings in der Kategorie „Christliche Meditation & Spiritualität“…

Der Autor ist Theologe und Redakteur der "Kathpress".

Habermas Buch - © Foto: Suhrkamp
© Foto: Suhrkamp
Buch

Auch eine Geschichte der Philosophie

Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen,
Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen.
Von Jürgen Habermas.
Suhrkamp 2019.
1752 Seiten, geb., € 100,20

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