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Die Schätze der christlichen Tradition - und damit auch der Seelsorge - sind groß. Von zu wenigen Therapeuten und Patienten werden sie gehoben.

In zahlreichen Diskussionen hat sich ein erstaunliches Verhalten von Theologinnen und Theologen gezeigt: Sie weichen zurück und machen der Therapie Platz. (Von einigen pointiert-polemischen Auslassungen abgesehen). Von theologischer Kritik oder Weiterführung des therapeutischen Ansatzes keine Spur. Alles Psychotherapie? Nichts mit der Theologie?

Symptomatisch zeigte sich das in der Wortmeldung einer Spitalsseelsorgerin: "Ich bin keine Therapeutin, keine Priesterin, keine Verkünderin, keine Psychologin, keine Sozialarbeiterin ..." Sie wurde daraufhin gefragt: "Was sind Sie dann, wenn sie das alles nicht sind? Und was bedeuten Sie dann den Kranken?" Vielleicht wird den Menschen im Spital an dieser Art kirchlich-christlicher Seelsorge nichts abgehen - aber unübersehbar fehlen darin die substanziellen christlichen Themen wie die Gegenwart Christi, die göttliche Vergebung, die Sakramente, die Sicht des Lebenslaufes unter dem Licht des Glaubens, die Hoffnung auf die Vollendung und vieles mehr. Unversehens ähnelt das einem Sieg der Moderne über den Glauben.

Traditionslose Seelsorge

Man kann daraus den Schluss ziehen, dass die Psychotherapie eben wirklich der gegenwärtigen Bewusstseinslage zu entsprechen vermag und dadurch schneller helfen kann, während die Seelsorge vergleichsweise "herumredet" und bestenfalls auf Riten und Gebete vertraut, deren Erfolg fraglich ist. Allerdings ist "Erfolg kein Wort Gottes" nach Martin Bubers Einsicht. Mag sein, aber könnte es nicht auch sein, dass die religiöse Seelsorge ihre Tradition zu wenig kennt und den Zusammenhang zwischen ihrem Glauben und der Situation der Menschen, in der sie sich heute befinden, nicht auszudrücken vermag?

Die Psychotherapie hingegen ist ein Kind der europäischen Aufklärung. Sie bietet ein System an Haltungen und Einsichten an, wie die kirchliche Seelsorge auch. Sie geht von der konkreten Erfahrung der Menschen aus. Keine Hierarchie wacht über deren Authentizität, die Wissenschaft gibt ihr Sicherheit. Therapeutinnen und Therapeuten haben ihre Identität in Ausbildungsinstituten. Sie benötigen dazu weder Kirchen noch Religionen. Die Stoischen Philosophien in heutigen Formen allein können ihr genügen.

Diese knappen Bemerkungen könnten dazu verführen, die Fragestellung lapidar mit der Beendigung der alten Weltbilder zugunsten des gegenwärtigen zu beantworten, wäre da nicht noch das steigende Interesse der Therapeuten am Schamanismus, an östlichen Wegen, an der hermetischen Tradition - ein berührender Vorgang, der auch Patienten in seinen Bann zieht, ja sie sogar zu stärken vermag.

Vielleicht ist also jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo diese Suche auch den christlichen Bereich mit einbezieht. Vielleicht ist also die westliche Gesellschaft jetzt imstande, nach Aufklärung und Konstruktivismus ihre eigene spirituelle Tradition erneut zu begreifen, ja vielleicht sogar Gott zu lieben. Dieser Vorgang ist unendlich subtiler und schwieriger zu vermitteln, als eine handfeste Psychotherapie der Neurosen. Aber das wäre Seelsorge. Denn es stellt sich immer mit der Sinnfrage auch die Frage nach dem "Du" Gottes, auch nach persönlichem Glauben oder Glaubensverweigerung Dieser Bereich benötigt nicht so sehr den Universitätsfachmann als den Mystagogen im traditionellen Sinn (Anm: Priester der Antike, der in die Mysterien einführte). Die Schätze der kirchlichen Traditionen Europas sind sehr groß und oft ungehoben. Vielleicht warten sie zuallererst einmal auf Therapeuten und Patienten, die sie wieder entdecken?

Noch eine wesentliche Perspektive ist zu erwähnen: Die exorzierende Kraft, die der kirchlichen Seelsorge und ihren Heiligen in vergangenen Jahrhunderten nachgesagt wurde, scheint gegenwärtig zur Psychotherapie gewandert zu sein. Sie "treibt Teufel und Dämonen" aus. In heutiger Sprache: Sie löst Zwänge, befreit aus Ängsten, heilt Depressionen und sogar Psychosen.

Integration statt Rivalität

Könnte es nicht sein, dass Psychotherapie und Seelsorge nicht in einem Ablöseprozess stehen ("Von der Seelsorge zur Psychotherapie!"), auch nicht in einem marktorientierten Rivalitätsverhältnis ("Was kommt mehr an und ist das bessere?") sondern so, dass beide im jetzigen Augenblick durch ihre Beziehung zur konkreten Wahrheit verbunden sind? Konkrete Menschen leiden und sind bedroht! Dieser heilige Bereich ist es, der sie beide weitertreiben wird. Daraus wird, so glaube ich, eine neue Integration des helfenden Heils erstehen. Von diesem Heil sagt Paulus am Ende des ersten Jahrhunderts, dass es "uns jetzt schon näher ist, als zu der Zeit, da wir gläubig wurden"! Inzwischen schreiben wir bereits das Jahr 2002. Viel Zeit, in der sich Gutes ereignen konnte.

Der Autor ist Psychotherapeut und Buchautor und war katholischer Priester.

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