"… als wär' nix gewesen"

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In Wolkersdorf erinnern 16 Tafeln an die jüdischen Familien der Weinviertler Gemeinde.

Josef Lande ist froh. "Das ist ja Mazzes!", ruft er und greift nach dem Brot: "Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich mit meinen 87 Jahren in Wolkersdorf Mazzes essen würde." Josef Lande ist ein freundlicher Herr mit weißem Schnurrbart, der noch den Charme des alten Österreich pflegt. Mit sichtlichem Behagen schaut er auf das Gewusel, das sich im kleinen Vorraum der Stadtbibliothek um das Buffet bildet. "Ich bin hier der Älteste", sagt er strahlend: "Ich habe die Nazis alle überlebt."

Nicht alle hatten soviel Glück wie Josef Lande. Als die Nazis 1938 die Macht auch in Wolkersdorf übernahmen, einer Kleinstadt im Weinviertel, waren rund vierzig der 2000 Einwohner mit einem Mal keine Österreicher mehr, sondern Juden. Dies bedeutete für sie die Vertreibung aus ihrer Heimatstadt und für mindestens sechzehn von ihnen den Tod in Auschwitz, in Kaunas oder anderen Stätten der Vernichtung.

"Es war am 9. November 1938", erzählt Josef Lande: "Wir saßen beim Abendessen, als die SA kam. Sie sagten, wir seien ein Sicherheitsrisiko und müssten sofort den Ort verlassen. Vom Tisch weg führten sie meinen Vater, meine Brüder und mich zur Wiener Stadtgrenze. Nur unsere Mutter durfte hier bleiben, weil sie keine Jüdin war."

Auch Josef Lande war kein Jude, sondern katholisch, ebenso wie seine beiden Brüder und sein Vater. Doch der war zu Beginn des Jahrhunderts aus dem orthodoxen Judentum konvertiert. Und deshalb war Josef Lande senior nach den Nürnberger Rassengesetzen ein "Volljude", deshalb galten seine Söhne als "Halbjuden", deshalb konnten geschäftstüchtige Volksgenossen wie der Kaufmann Leopold Schreiber die Hände nach der Buchhandlung ausstrecken, die Herr Lande sen. seit 1918 in Wolkersdorf geführt hatte.

Schweigende Mehrheit

Der Vater und die Söhne überlebten den Krieg in Wien, von der Mutter mit Lebensmitteln versorgt: "Auch andere haben geholfen, der Bauer Stidl vor allem, das muss mal laut gesagt werden", sagt Josef Lande und hat plötzlich feuchte Augen: "Unsere Mutter hätte sich scheiden lassen können. Aber sie wollte nicht trennen, was Gott verbunden hatte."

1945 kehrte die Familie in das Städtchen zurück und führte die Buchhandlung weiter, "die erste und einzige, die es je in Wolkersdorf gab". Ob das nicht komisch gewesen sei? "Und wie! Die Leute haben so getan, als wär' nix gewesen. Einmal kam ein ehemaliger SA-Mann in den Laden und wollte den Papa sprechen. Er sagte:, Nicht wahr, Herr Lande, ich habe Ihnen ja nichts getan?' Er wollte sich wieder mit uns gut stellen, um eine Stelle bei der Stadt zu bekommen. Mein Vater hat bloß abgewunken."

Die meisten "Juden", die den Holocaust überlebten, haben Wolkersdorf nie wieder betreten. Ihre Häuser und Geschäfte, in denen sich inzwischen andere eingerichtet hatten, erhielten sie nur nach zähen Verhandlungen zurück, oder sie mussten sich mit Vergleichen abfinden. Die wenigen, die wie Josef Lande oder der Gemischtwarenhändler Kurt Diamant zurückkehrten, hatten das Spiel der schweigenden Mehrheit mitzuspielen.

Für die im Krieg gefallenen Soldaten errichtete die Gemeinde ein Denkmal. Es steht vis à vis vom Haus des Rechtsanwaltes Dr. Ernst Basch, das seit der Zwangsenteignung 1938 der Gemeinde Wolkersdorf gehört. Ernst Basch und seine Frau Selma wurden in Auschwitz ermordet. An sie erinnerte in Wolkersdorf lange Zeit nichts. Fast 70 Jahre später, Ende Oktober 2007, werden sechzehn Tafeln an der Seitenwand des Hauses aufgestellt. Sie erzählen in Worten und Bildern die Geschichte der "jüdischen" Familien aus Wolkersdorf, die der Basch, Diamant und Lande, der Beer, Fleischmann, Justitz, Loew und der anderen, die in der Stadt gelebt hatten und 1938 verstoßen wurden.

Die Tafeln hat eine Arbeitsgruppe aus Wolkersdorfer Bürgern geschaffen. Der Weinbauer, die Lehrerin, der Immobilienmakler, die Hausfrau: Jeder hat die Patenschaft für eine der vertriebenen Familien übernommen und, geleitet von der Historikerin Johanna Grützbauch, ihr Schicksal rekonstruiert. Die Arbeitsgruppe hat Archive aufgesucht, alte Fotos gesammelt, Kontakt mit Nachfahren der Überlebenden in London, Uruguay, Australien aufgenommen, Rundgänge durch die Stadt veranstaltet, Texte geschrieben, und der Künstler Ferdinand Altmann hat die Tafeln gestaltet, die bis Ende November in Wolkersdorf zu sehen sind, auf dem kleinen Platz zwischen dem Haus von Dr. Basch und der Stadtbibliothek.

Zur Eröffnung der Ausstellung sind, trotz klirrender Kälte, mehr als hundert Gäste erschienen, darunter Josef Lande, der seit seiner Pensionierung 1979 in Wien lebt und für den es eine große Genugtuung ist, diesen Abend zu erleben. Unter den vielen Menschen sind auch Vertreter des Stadtrats, der das Projekt der Arbeitsgruppe "Wolkersdorf 1938" geschlossen unterstützt hat, das heißt mit Ausnahme einer Partei …

Leicht aber ist es der Gemeinde nicht gefallen, sich ihrer Geschichte zu stellen. Es ist dieselbe, die sich 1938 überall in Österreich und anderswo in Europa abgespielt hat und die man gewöhnlich mit Faschismus, Verfolgung, Arisierung beschreibt. Doch an die Stelle dieser abstrakten Worte treten in einer Kleinstadt wie Wolkersdorf konkrete Namen, Orte und Gesichter, die womöglich sogar in die eigene Familiengeschichte gehören, und dann drängen sich Fragen auf, denen man nicht mehr so leicht ausweichen kann.

Schwierige Identitätspflege

Wie schwierig diese Konfrontation mit der Geschichte war und ist, ahnt man, als der Vertreter der schweigenden Mehrheit, der Bürgermeister (ÖVP), sein Grußwort spricht. Eine Stadt müsse ihre Identität pflegen und dazu gehöre nunmal auch, "die schlechten Zeiten, wo es notwendig ist, aufzuarbeiten". Dieser unangenehmen Aufgabe hat sich die Arbeitsgruppe angenommen, und dafür ist der Bürgermeister ihr dankbar. Über das, was geschehen ist, vor und nach dem Krieg, kommt so gut wie kein Wort über seine Lippen.

Vielleicht sollte man nicht zuviel auf einmal erwarten. Seit der Vertreibung der Juden aus Wolkersdorf sind schließlich erst 70 Jahre vergangen. Immerhin stehen jetzt die Tafeln mit den Familiengeschichten der Vertriebenen im öffentlichen Raum, wenn auch vorerst nur bis zum Beginn des Advents. Und der Buchhändler Josef Lande hat mit seinen 87 Jahren in Wolkersdorf Mazzes essen dürfen. Wer weiß, vielleicht erlebt er ja noch, dass die Gemeinde ihm und seinen Leidensgenossen ein dauerhaftes Denkmal errichtet? Die kleine Stadt im Weinviertel würde damit ein großes, weit über die Region hinaus sichtbares Zeichen setzen.

Info: www.wolkersdorf1938.at

Gedenken an die Judenverfolgung:

MECHAYE HAMETIM - Der die Toten auferweckt. Ökumenischer Gottesdienst am 69. Jahrestag der Novemberpogrome 1938

Leitung: Bischofsvikar Karl Rühringer

Worte des Gedenkens: Landessuperintendent Mag. Thomas Hennefeld, evang. Kirche H.B.

Freitag, 9. November, 19 Uhr

Ruprechtskirche, 1010 Wien, anschl. Schweigegang zum Schoa-Mahnmal am Judenplatz.

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