"Alter Plunder bewegt noch immer"

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Katholische Religionslehrer - und die furche - besuchten Franz Welser-Möst beim Proben der Matthäuspassion.

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Katholische Religionslehrer - und die furche - besuchten Franz Welser-Möst beim Proben der Matthäuspassion.

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Die Matthäus-Passion garantiert einen ausverkauften Konzertsaal. Bei der Feier der Karfreitagsliturgie in den Kirchen sind dagegen die Bänke oft halbleer. Sind Dirigenten die neuen Hohenpriester der Zeit? Mitglieder der "Arbeitsgemeinschaft katholischer AHS-Religionslehrer" versuchten dies bei Probe und Gespräch mit dem Stardirigenten Franz Welser-Möst im Wiener Musikverein herauszufinden.

1. Station: ERÖFFNUNG "Kommt ihr Töchter, helft mir klagen!" schmettern die Damen und Herren des Wiener Singvereins. "Nicht quietschen auf dem A im Sopran", ruft der Herr in Jeans und Pullover auf dem Dirigentenpodest. "Und bitte auch nicht leiern!", fügt er höflich hinzu.

Wenn Franz Welser-Möst, Chefdirigent der Zürcher Oper, mit dem Wiener Singverein und der Camerata Salzburg den Klagegesang der Töchter Zions probt, dann ist das weit mehr als der Eröffnungsgesang zur bevorstehenden Passion Jesu: Hier begegnen sich in der Sprache der Musik Himmel und Erde. "Die Bläser stehen für das Reich der Welt, denn im Blasen symbolisiert sich das Atmen der Kreatur. Die Streichinstrumente sind dem Reich Gottes zugeordnet", erklärt Welser-Möst. "Dementsprechend ist auch der Chor zweigeteilt. Das Ensemble links steht für das Reich Gottes, das Ensemble rechts für die Welt." Welser-Möst wendet sich wieder an seine Musiker. "Bitte absolute Konzentration jetzt." Sofort ist es still. Kein Zweifel - dieser eher unscheinbar wirkende Mann hat Chor und Orchester fest im Griff. Er erhebt beide Hände. "Kommt ihr Töchter helft mir klagen", erschallt es nochmals. Diesmal ist Welser-Möst zufrieden. Himmel und Erde haben zusammengefunden.

Seit 15 Jahren dirigiert der Katholik Welser-Möst die Matthäus-Passion. Und steht noch immer fassungslos vor dem dramaturgischen Genie des Protestanten Johann Sebastian Bach. "Das ist nicht nur großartige Musik. Das sind schöne theologische Aussagen, die weit über die Grenzen von Konfessionen hinausgehen. Konfessionelle Kleinkriege beschäftigen große Geister wie Bach nicht mehr", sagt Welser-Möst im anschließenden Gespräch mit den Religionslehrern.

Sind Dirigenten die neuen Hohenpriester unserer Zeit? "Priester und Dirigent haben viel gemeinsam", antwortet Welser-Möst. "Beide sind Interpreten, Zwischenträger. Wer Musik interpretiert, ist ein Gefäß, durch das etwas durchfließen soll, um jemand anderen zu erreichen." Allerdings, so Welser-Möst, könnten heute die Interpreten der Musik Inhalte besser transportieren als eine in dogmatischen Formeln erstarrte Kirche. "Musik ist eine Sprache, die nicht nur Ausgebildete verstehen. In der Musik gibt es kein Richtig und kein Falsch, das von vornherein festgesetzt ist", sagt Welser-Möst: "Ich bin kein studierter Theologe, doch mir sagt mein Hausverstand, dass wir die Herzensbildung vernachlässigen zugunsten von Rechthaberei und Lehre."

2. Station: GEFANGENNAHME "Mond und Licht ist vor Schmerzen untergangen, weil mein Jesus ist gefangen. Sie führen ihn, er ist gebunden", klagen Malin Hartelius (Sopran) und Barbara Hölzl (Alt) im Duett. "Lasst ihn, haltet, bindet nicht!" ruft der Chor angstvoll dazwischen. Doch Protest ist vergeblich. Die Katastrophe ist geschehen: Jesus ist gefangen. Und dann - was für eine Verwandlung! Der bisher so ruhige Dirigent wird zur leibhaftigen Furie. Läuft vom linken Chor zum rechten. Feuert die Sänger an. Spricht den Text mit: "Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden? Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle, zertrümmre, verderbe, verschlinge, zerschelle mit plötzlicher Wut den falschen Verräter, das mördrische Blut!" Welser-Mösts linke Hand zuckt im Takt der Blitze. Die rechte Hand ist zur Faust geballt. Die Halsschlagader angeschwollen. Jäh bricht er das Bühnengewitter ab: "Spucken, meine Damen und Herren, spucken! Das ist äußerst aggressive Sprache! Wenn ich da nicht nass werde, war's nichts! Und trotzdem beachten: Hier beginnt nicht das Oktoberfest. Also nicht loskoffern! Wenn einzelne in einer Fuge Recht haben wollen, dann wird's schwierig. Ruhig bleiben! Disziplin!"

Vor jeder Aufführung versucht der Dirigent eine halbe Stunde zu meditieren. "So wie es in der Bass-Arie der Matthäus-Passion heißt: ,Welt geh aus, lass meinen Jesum ein'", sagt Welser-Möst. "In esoterischer Sprache würde man es wohl so ausdrücken: Ich lasse die negativen Energien heraus, um Gefäß für etwas Höheres zu werden. Funktionieren tut's freilich nicht immer", fügt er bescheiden hinzu. Doch grundsätzlich weiß er: Aus der Ruhe kommt die Kraft. Auch Disziplin hat für ihn etwas Befreiendes. "Ich führe ein hektisches Leben. Aber ab und zu nehme ich mir Zeit und fahre zu den Mönchen nach Kremsmünster. Was mich dort so fasziniert, ist der feste Tagesablauf. Diese Ordnung ist unglaublich schön." Freiheit in der Ordnung - sie findet Welser-Möst im Kosmos von Bachs Matthäuspassion. "Wenn jemand eine solche Freiheit in der strengen Form der Fuge erringt - das haut einen um!"

3. Station: KREUZIGUNG Die Altistin steht unter dem Kreuz. "Sehet, Jesus hat die Hand uns zu fassen ausgespannt", singt sie - eine Stelle, die Welser-Möst besonders liebt. Erstens, weil er hier ein besonders berührendes Beispiel für Bachs Symbolsprache findet: Der erste Soloeinsatz zählt 23 Noten - laut Welser-Möst ein Hinweis auf den 23. Psalm "Der Herr ist mein Hirte". Zweitens erinnert ihn die Farbigkeit und Lebendigkeit der Arie an Jacopo Tintorettos Bild "Aufstieg zum Kalvarienberg". "Als ich diese Kreuzigungsszene zum ersten Mal gesehen habe, hat mich das wie ein Schlag getroffen", erinnert sich Welser-Möst. "Dieser Lichtschein um den Oberkörper Christi, diese Verklärung! Man sieht die Nägel kaum mehr. Der, der am Kreuz hängt, scheint den Betrachter wirklich zu umarmen." Es ist die Zeitlosigkeit dieser Szene in Malerei und Musik, die Welser-Möst tief berührt: "Jetzt führen wir diesen alten Plunder noch immer auf. Und er bewegt uns immer noch!"

4. Station: GRABLEGUNG Das Drama ist vorüber, Gottes Sohn gekreuzigt. "Nun ist der Herr zur Ruh gebracht", singt Thomas Quasthoff das Bass-Rezitativ. "Mein Jesu, gute Nacht! Ruhe sanfte, sanfte ruh!" antwortet der Chor. Doch Welser-Möst schüttelt leicht den Kopf, winkt ab. "Das ist nicht irgendein Jesus. Das ist mein Jesus! Bitte betonen Sie das. Das ist das wichtigste: Mein Jesus! Und alles ein bisschen zarter, liebevoller. Sie müssen immer denken: Der Friedensschluss ist bereits gemacht. Die Stimmung ist friedlich, wunderschön! Da ist alles nur noch Verklärung!" Noch ein Versuch. Doch wieder ist Welser-Möst nicht zufrieden. "Bitte achten Sie auf die Anschlüsse. Da darf es keine Frömmigkeitspausen geben! Und dann klingt das alles viel zu aktiv! Das muss viel schlichter und einfacher sein. Weniger ist mehr! Da muss unglaubliche Todessehnsucht sein - Sehnsucht und Schönheit!"

Später - im Gespräch mit den Religionslehrern - wird Welser-Möst sagen: "Das Ende ist nicht ein Ende, sondern ein Heimgehen in diese Nacht hinein. Das ist eine wunderschöne Botschaft, die Bach wie kein anderer ausgedrückt hat."

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