Geschändete Namen - © Foto: Getty Images / Nicolas Liponne/NurPhoto

Antisemitismus 2019: Erschreckender Trend in Europa

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In Europa ist der Antisemitismus nie verschwunden. Er beschränkt sich keineswegs auf ein linkes, rechtes oder muslimisches Milieu und wird zudem von unterschiedlichen Seiten instrumentalisiert.

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In Europa ist der Antisemitismus nie verschwunden. Er beschränkt sich keineswegs auf ein linkes, rechtes oder muslimisches Milieu und wird zudem von unterschiedlichen Seiten instrumentalisiert.

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Im Oktober 2019 verübte ein rechtsradikaler Deutscher am Jom Kippur einen Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale. Es war ihm nicht gelungen, die Tür zu öffnen und er tötete eine Frau, die zufällig vorbeikam, sowie einen Mann in einem Döner-Imbiss. Der Anschlag richtete sich primär gegen Juden, der Täter brachte aber auch seinen tiefen Hass auf Ausländer („Kanaken“) zum Ausdruck und outete sich als Holocaustleugner. Antisemitismus im rechtsradikalen Milieu wurde in den letzten Jahren wenig beachtet, auch deshalb, da mit den gezielten Tötungen von Juden in Toulouse (2012), im Jüdischen Museum in Brüssel (2014) und einem koscheren Supermarkt in Paris (2015) der islamistische Antisemitismus tödliche Dimensionen angenommen hatte.

Die Anschläge verübten Franzosen mit nord afrikanischen Wurzeln, islamisiert im Gefängnis bzw. in Ausbildungslagern in Syrien, Pakistan und Afghanistan. In Großbritannien, das bisher als wenig antisemitisch galt, betrachten Juden wiederum Jeremy Corbyn, der 2015 zum Vorsitzenden der Labour Party gewählt wurde, vor allem aufgrund problematischer Positionen zu Israel als große Gefahr für das britische Judentum. Gleichzeitig bemühen sich rechtspopulistische Parteien wie Geert Wilders „Partei der Freiheit“, der belgische „Vlams Belang“, die FPÖ oder der „Rassemblement National“ (bis 2018 „Front National“) um eine enge Beziehung zu Israel und werben um jüdische Mitglieder.

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Allein diese wenigen Beispiele verweisen auf die Komplexität und den unterschiedlichen Charakter des gegenwärtigen Antisemitismus. Selbst wenn sich teilweise ähnliche antisemitische Stereotypen finden, haben wir es mit höchst unterschiedlichen Ideologien und Motiven zu tun. Dies lässt sich an einigen Beispielen gut illustrieren.

Muslimischer Antisemitismus

Laut einigen Umfragen zum „muslimischen Antisemitismus“ weisen Muslime in Europa signifikant höhere Werte auf als die Mehrheitsgesellschaft, insbesondere in ihrer Ablehnung Israels. Häufig zeigt sich ein enger Zusammenhang zum Nahostkonflikt, wobei allerdings auf die Heterogenität des Islam zu achten ist. Diskutiert wird darüber seit der Zweiten Intifada, die im Herbst 2000 in Jerusalem ausbrach. Unmittelbar danach brannten in Frankreich Synagogen, Friedhöfe wurden zerstört und einzelne Juden tätlich angegriffen.

Selbst wenn sich ähnliche antisemitische Stereotypen finden, haben wir es mit höchst unterschiedlichen Ideologien zu tun.

Als Täter wurden vor allem junge, sozial marginalisierte muslimische Männer ausgemacht. Sie sehen in Juden Agenten Israels, ihre Tat rechtfertigten sie mit der Unterdrückung der Palästinenser. Manche, auch jene, die für die Terroranschläge verantwortlich waren, fanden erst im Gefängnis zur Religion bzw. zum Islamismus. Diese stark auf Emotionen basierende Identifikation mit den Palästinensern geht mitunter so weit, dass Muslime sich als „Juden der Gegenwart“ betrachten bzw. ihre Situation mit der Judenverfolgung in den 1930er Jahren gleichsetzen. Vielfach wird kritisiert, dass dem Holocaust große Wertschätzung zukomme, wohingegen der Westen sich für den Kolonialismus und die gegenwärtige Islamfeindlichkeit unempfindlich zeige. Manche vermuten dahinter eine „jüdische Lobby“.

Von der Anerkennung der muslimischen Leidensgeschichte erhoffen sich Muslime einen besseren sozialen Status. In Österreich konnten erst mit dem Gazakrieg von 2014 größere Teile der türkischen Community für „Palästina“ mobilisiert werden, wobei sich türkischer Nationalismus (und somit auch der Einfluss von Erdoğans AKP), religiöse Momente und Palästina-Solidarität mit Antisemitismus vermischten. Wie repräsentativ die hier erwähnten Haltungen für den europäischen Islam an sind, lässt sich schwer abschätzen.

Jeremy Corbyn und britisches Judentum

Laut einer 2018 veröffentlichten Studie würden 40 Prozent der Juden das Land verlassen, falls Jeremy Corbyn zum Premierminister gewählt würde. Viele misstrauten ihm von Beginn an, einige traten aus der Labour Party aus. Die zentrale Kritik betraf seine Haltung zu Israel. Wie viele britische Linke gilt er als Vertreter des Antizionismus, was damit gerechtfertigt wird, dass Zionismus eine Form von Rassismus sei. Gerade weil die Linke die Lehren aus dem Holocaust gezogen habe, müsse sie nunmehr gegen jede Form von Rassismus und insbesondere gegen Israels imperialistische Politik gegenüber den Palästinensern auftreten.

Besonders angelastet wurde Corbyn, dass er bereits vor seiner Amtszeit „britischen Zionisten“ vorgeworfen hatte, selbst wenn sie ihr gesamtes Leben hier gelebt hätten, „britische Ironie“ nicht zu verstehen. Bewusst oder unbewusst griff er damit auf das klassische Vorurteil von Juden als den grundsätzlich anderen zurück. Gleichzeitig lobte er das „progressive jüdische Element“ in East End, das sich nach dem Ersten Weltkrieg gegen einen jüdischen Staat gestellt habe.

Die Bemühungen rechter Parteien um Annäherung an Israel tragen nur wenig zur Immunisierung der Basis bei und dienen vor allem der Rechtfertigung für Islamfeindlichkeit.

Das Gegeneinander-Ausspielen von „guten“ (antizionistischen Juden, NS-Opfer) und „bösen“ („Zios“) Juden ist typisch für Teile der Linken und verweist auf ein fehlendes Gespür für Antisemitismus. Wo konkret die Grenzziehung zwischen legitimer Kritik an Israels Politik und Antisemitismus bzw. Antizionismus verläuft, lässt sich allerdings nicht immer eindeutig feststellen. Da ausgerechnet rechte (Daily Mail, The Sun, Daily Telegraph) und jüdische Medien Corbyn mit Antisemitismus konfrontierten, schaukelte sich die Debatte zudem auf und machte einige Labour-Anhänger für Verschwörungstheorien anfällig. In Umfragen weisen allerdings radikale Rechte und UKIP-Anhänger den höchsten Prozentsatz an Antisemitismus auf, radikale Linke unterscheiden sich wenig von der Gesamtgesellschaft.

Rechte Israeleuphorie

Seit mehreren Jahren nehmen rechtspopulistische Parteien eine demonstrativ proisraelische Position ein. Der Nahostkonflikt wird dabei als Konflikt zwischen dem Westen (repräsentiert von Israel) und einer barbarischen, islamistischen Ideologie gedeutet. Politiker vom rechten Rand der israelischen Gesellschaft fungieren als Verbündete. Im Jahr 2010 schloss sich der FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache erstmals einer Delegation nach Jerusalem an. Auf Kritik stieß dabei sein Besuch in Yad Vashem, wo er die Burschenschafterkappe trug. Dies kann als Signal an nach wie vor Israel-skeptische, nationale Kreise zu Hause interpretiert werden, denen diese Annäherung an Israel zu weit ging. Vor allem auch deshalb, da die FPÖ bis 2009 auf Seiten der Hamas und Hisbollah stand. Dieser radikale Kurswechsel ist vor allem damit zu erklären, dass die Partei als regierungsfähig gelten wollte und das Image einer antisemitischen Partei loswerden musste. Daran ist sie allerdings nicht nur an der „Liederbuchaffäre“ oder den vielen „Einzelfällen“ gescheitert.

Trotz seiner Israeleuphorie zeigte sich auch Strache für antisemitische Verschwörungstheorien anfällig. Als beispielsweise Johann Gudenus im April 2018 von „stichhaltigen Gerüchten“ sprach, wonach der ungarische Holocaustüberlebende, Investor und Philanthrop George Soros mit „viel Kapitalmacht versucht habe, alle möglichen Umwälzungstendenzen zu finanzieren“, fand Strache schnell verteidigende Worte für den damaligen Klubobmann. Dieser würde sich, so Strache, mit dem israelischen Premierminister Netanjahu auf einer Ebene befinden. Soros ist Netanjahu aufgrund seiner Unterstützung von linken israelischen NGOs tatsächlich ein Dorn im Auge.

Die Bemühungen rechter Parteien um eine Annäherung an Israel tragen jedenfalls nur wenig zur „Immunisierung“ der Basis bei und dienen vor allem der Rechtfertigung für Islamfeindlichkeit. Mit Vorsicht ist daher das Gerede vom „christlich-jüdischen Abendland“ oder der „christlich-jüdischen Kultur“ zu genießen, das sich allerdings keineswegs auf rechte Parteien beschränkt und zumeist gegen Muslime richtet. Antisemitismus ist mit dem Holocaust nie verschwunden, beschränkt sich keineswegs auf ein linkes, rechtes oder muslimisches Milieu und wird zudem von unterschiedlichen Seiten instrumentalisiert. Wenig Aussagekraft haben mittlerweile positive Beziehungen zur israelischen Regierung oder Besuche in Yad Vashem. Erinnert sei an die Besuche von Mateo Salvini, der Israel als Fes tung für den Schutz Europas gegen die Islamisierung betrachtet und wenig Distanz zu Mussolini zeigt, oder Viktor Orbán, „Erfinder“ der Soros-Kampagne und voll des Lobes für Israels Selbstverständnis als „jüdischer Staat“, womit er seinen Wunsch nach einem „christlichen Europa“ rechtfertigt.

Die Autorin ist Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Salzburg.

Antisemitismus in Europa - © Foto: Böhlau
© Foto: Böhlau
Buch

Antisemitismus in Europa

Fallbeispiele eines globalen Phänomens im 21. Jhdt.
Von Helga Embacher, Bernadette Edtmaier, Alexandra
Preitschopf Böhlau 2019. 336 S., geb., € 36,–

Wiener Judenplatz - © Foto: Rupprecht@kathbild.at
© Foto: Rupprecht@kathbild.at
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