Arme sind Gottes Lieblinge

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Um Befreiungstheologie ist es still geworden. Der über Jahrzehnte diskutierte Ansatz, der Theologie eine politische Dimension zu verleihen, ist keineswegs obsolet.

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Um Befreiungstheologie ist es still geworden. Der über Jahrzehnte diskutierte Ansatz, der Theologie eine politische Dimension zu verleihen, ist keineswegs obsolet.

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Pablo Neruda, der chilenische Nobelpreisträger für Literatur (1971), besang 1950 in seinem Epos auf Amerika, dem Canto General, auch die Befreier Lateinamerikas, die Libertadores. Zu ihnen zählt er die politischen "Befreier" der Unabhängigkeitskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts, allen voran Simon Bolivar. Aber auch revolutionäre Nationalhelden wie Jose Marti (Kuba), Augusto Cesar Sandino (Nikaragua) und Emiliano Zapata (Mexiko) gehören dazu, indianische Widerständler gegen die spanische Herrschaft, wie der letzte Aztekenkaiser Cuauhtemoc oder der letzte Inka Tupac Amaru, sowie der große Bischof Bartolome de las Casas, der im 16. Jahrhundert die Menschenrechte der Indianer verteidigte.

Welche Befreiung?

Befreiung von der Hegemonie europäischer Mächte war das Programm des im 19. Jahrhundert. Doch weil die Nutznießer der politischen Befreiung im Emanzipationsprozess Iberoamerikas im wesentlichen nur die Mitglieder der weißen Oberschicht (etwa 20 Prozent) waren und für die Mehrheit der farbigen Unterschichten (Indianer, Mestizen, Afroamerikaner) kaum ein sozialer Wandel einsetzte, handelte es sich um eine sehr ungleiche Befreiung, die den Keim für künftige Verwerfungen der sozialen und politischen Systeme auf dem Kontinent in sich barg.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesichts katastrophaler sozialer Verhältnisse, dem Scheitern der Entwicklungsprogramme und der Zunahme von Militärdiktaturen ein Schrei nach Befreiung wie ein Cantus firmus über den Kontinent zog. Er wurde von der Politik aufgegriffen und in den Sozialwissenschaften reflektiert (Dependenztheorie). Eine Pädagogik der Befreiung (Paulo Freire) ging mit Entfaltungen einer Philosophie und schließlich einer Theologie der Befreiung Hand in Hand. An der Befreiungsrhetorik machte sich die Hoffnung auf Veränderung fest.

Die Geburtsstunde der Theologie der Befreiung schlug 1968, als der peruanische Theologe Gustavo Gutierrez statt von "Entwicklung" von "Befreiung" sprach und diese in einem dreifachen Sinn als politische Emanzipation, soziale Verbesserung und religiöse Erlösung (Befreiung von der Sünde) verstand, ohne diese Dimensionen aufeinander zu reduzieren.

Ein solches Verständnis des Christentums als Botschaft der Befreiung fand einerseits harsche Kritik seitens des kirchlichen Lehramts (zwei Instruktionen der Glaubenskongregation, 1984 und 1986), aber auch innerhalb Lateinamerikas. Der brasilianische Erzbischof Dom Helder Camara (1909-99) sagte einmal sinngemäß: "Wenn ich sage, dass wir für die Armen sorgen müssen, werde ich als Heiliger verehrt. Wenn ich frage, warum die Armen arm sind, werde ich als Kommunist verfolgt." Andererseits haben sich die Bischöfe Lateinamerikas und die Weltkirche die Sprache der Befreiung sowie zentrale Ideen der Befreiungstheologie aufgegriffen. Das gilt für die kontinentalen Synoden von Medellin (1968) und Puebla (1979), aber auch weltkirchlich für das Apostolische Schreiben Pauls VI. Evangelii nuntiandi (1975) über die Evangelisierung.

Schließlich hat sich die Befreiungstheologie gewissermaßen globalisiert, indem sie von Lateinamerika nach Asien und Afrika wanderte und sich dort mit neuen Fragestellungen auflud. Über die Sozialproblematik hinaus nahm sie ökumenisch Fragen der Kultur und der anderen Religionen auf und bereicherte damit das theologische Nachdenken in Lateinamerika. Denn dort verstand man, dass die Armen nicht nur arm sind, sondern auch Kultur und Religion haben, und dass zur integralen Befreiung auch innere Freiheit und Harmonie gehören. Dadurch verschob sich die Achse von einer sozioökonomischen zu einer soziokulturellen Perspektive (J. C. Scannone), wie denn auch die Synode von Santo Domingo (1992) die Herausforderungen der indianischen, afroamerikanischen und der Mestizen-Kulturen annahm.

Wege der Befreiung Die Kraft des Befreiungsparadigmas signalisiert mithin weniger das Ende, sondern eher eine Wende. Inzwischen bedient sich auch eine Reihe anderer Bewegungen und Denkrichtungen der Befreiungsrhetorik. Man denke nur an afrikanische und asiatische Befreiungstheologien, an feministische Entwürfe, an jüdische, palästinensische und islamische Befreiungstheologien sowie an Ausweitungen auf Gender- und Ökofragen.

"Wie kann man den Armen, die in ihrem Leben nichts als das Gegenteil von Liebe erfahren haben, dennoch vermitteln, dass Gott sie liebt? ... Wie kann man Theologie treiben, solange Ayacucho (Ort in Peru) aktuell ist?" So fasste Gutierrez einmal die Gottesfrage der Befreiungstheologe zusammen und markierte zugleich den Unterschied zur europäischen Theologie: Geht es dieser um die Gottesrede nach Auschwitz, so geht es der lateinamerikanischen Theologie um die Gottesrede in Ayacucho. Worin besteht nun das Neuartige der Befreiungstheologie, die sich in den letzten 30 Jahren widerständig entwickelt hat? Es lässt sich auf drei Punkte bringen: * Die Befreiungstheologie denkt wie jede Theologie über Gott nach, tut dies jedoch aus der Perspektive der Armen, desde los pobres. Daher ist die Befreiungstheologie an der Geschichte derer interessiert, die in der Geschichte nirgends vorkommen. Es sind die Armen dieser Welt, die unter miserablen Bedingungen in den Elendsvierteln zu überleben versuchen, die wirtschaftlich, politisch und kulturell marginalisiert sind. Die Wahrnehmung des armen Anderen mit den Augen des Glaubens, das ist die erste Leistung der Befreiungstheologie.

* Der Perspektivenwechsel gründet in einer spirituellen Grundintuition, die als "Einbruch des Armen" (irrupcion del pobre) in Gesellschaft und Kirche Lateinamerikas beschrieben und als ein Einbruch Gottes verstanden wird. Die Begegnung mit dem Armen wird zu einer Begegnung mit Gott in der Geschichte, weil die Kirche in den konkreten Zügen der Armen das "Leidensantlitz Christi" entdeckt (Puebla 1979) oder Theologen von den "gekreuzigten Völkern der Dritten Welt" sprechen (Jon Sobrino) und dafür als biblischen Text Jesu Rede vom Weltgericht (Mt 25,31-46) heranziehen.

* Der Perspektivenwechsel und die Gottesbegegnung im armen Anderen bleiben nicht folgenlos. Sie führen vielmehr zu einer Selbstverpflichtung, die in der programmatischen Formel einer "vorrangigen Option für die Armen" ihren Ausdruck gefunden hat. Die Armen sind aber nicht deshalb "Gottes Lieblinge", weil sie religiös oder moralisch besser als alle anderen wären, sondern weil Gott Gott ist und weil für ihn die Letzten die Ersten sind. Diese Option für die Armen, die die Universalität der Liebe Gottes zu allen Menschen mit der Präferenz für die Armen verbindet, hat inzwischen Karriere gemacht. Denn die Bischöfe Lateinamerikas haben sie sich zu eigen gemacht, ebenso päpstliche Sozialenzykliken (Sollicitudo rei socialis 1987; Centesimus annus 1991) oder das ökumenische Sozialwort der Kirchen Deutschlands, 1997.

Die Theologie der Befreiung gilt als Beispiel einer kontextuellen Theologie, die nicht zeitlos von Gott redet, sondern sich ausdrücklich auf ihre Epoche bezieht und angesichts der Globalisierung der Armut die "Leidempfindlichkeit" der Theologie (J. B. Metz) einfordert.

Solange Arme auf dieser Welt existieren und aus christlicher Inspiration wahrgenommen werden, ist eine Befreiungstheologie an der Zeit, die das Christentum als Religion "befreiter Freiheit" (Gal 5,1) erweist.

Der Autor ist Professor für Pastoraltheologie an der Theol. Hochschule Frankfurt/St. Georgen.

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