Armenien: Aus dem Schatten der Welt
In Armenien wurde das Christentum bereits im Jahr 301 Staatsreligion. Die christlichen Armenier finden sich bis heute an einer kulturellen Schnitt- und Bruchstelle: Passion und Mission des Volkes Noachs.
In Armenien wurde das Christentum bereits im Jahr 301 Staatsreligion. Die christlichen Armenier finden sich bis heute an einer kulturellen Schnitt- und Bruchstelle: Passion und Mission des Volkes Noachs.
Schlagen wir aus profanem oder heiligem Trotz zu allem, was auf der Welt in Krisen und Plagen geschieht, die Bibel auf, so stoßen wir im Alten Testament mit Noach auf eine Figur und Person, die angesichts aller Not nur im Exil einer Arche eine Heimat fand. Inmitten erlesener Getreuer verließ er, wie wir wissen, eine alte Welt der Laster, um eine neue Welt der Tugend zu suchen. Schließlich entließ er seine Schar auf dem Gipfel eines Berges mit der Sendung, ringsum auf der Erde statt der Barbarei eine Zivilisation zu errichten, die Gott gerechter sei.
Es war – so die mythologische Fama – der Ararat im Süden des Kaukasus, und das Volk, das ihn in der Tradition Noachs als Symbol seiner Hoffnung und Rettung aus Nähe und Ferne bis heute anbetet, ist das der Armenier. Wie brisant das Leben an der Schnittstelle zweier Kontinente westlicher und östlicher sowie christlicher und muslimischer Prägung nach wie vor ist, zeigt sich aktuell am sogenannten Vierundvierzig-Tage-Krieg um Nagornij-Karabach. Bisher zu drei Vierteln von Armeniern bewohnt, gehört es völkerrechtlich zu Aserbaidschan.
Als Vorgänger und Nachfolger der Sowjetunion, der die beiden Kaukasus-Republiken – zunächst als „Transkaukasische Republik“ vereint und sodann als autonome Staaten getrennt – im „kurzen 20. Jahrhundert“ angehörten, war kein anderer Staat so sehr zur Vermittlung prädestiniert wie Russland. Vor wenigen Tagen schloss demgemäß ein von Wladimir Putin selbst verhandelter Waffenstillstand den Kampf vordergründig ab. Die Exklave verliert rund zwei Drittel ihres Territoriums an Aserbaidschan. Zwischen ihr und Armenien bleibt nur ein schmaler Streifen.
Erstes und letztes Bollwerk des Westens
Um den Konflikt zu verstehen, kehren wir weit in die Vergangenheit zurück: Als das der indoeuropäischen Sprachengruppe mit eigener Schrift angehörende und der griechisch-römischen Tradition verpflichtete Armenien im Jahr 301 das Christentum als Staatsreligion annahm, tat es das als erstes Gemeinwesen weltweit. Noch heute verweisen die Armenier mit Stolz darauf. Denn es handele sich um eine Geschichte der opfernden Abwehr: je nach Perspektive als erstes und letztes „Bollwerk“ des „Westens“ gegen einen „Osten“ aus Parthern, Sassaniden, Seldschuken, Arabern, Mongolen oder Osmanen.
So wehrten die Armenier gerade einen gegen Byzanz gerichteten „Ansturm“ an ihren Grenzen ab, als 451 das Konzil von Chalcedon tagte. Dass sie niemanden dazu entsenden konnten, sollten ihnen ihre Brüder und Schwestern indes schlecht danken: mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft. Die Konsequenz war eine bis heute anhaltende innerarmenische Spaltung zwischen einer mit Rom verbundenen (kleineren) katholischen und einer davon unabhängigen (größeren) Kirche, die sich kraft ihrer vom Apostel Judas Thaddäus abgeleiteten Mission „apostolisch“ nennt.
Dass die Armenier, wie ihnen das „ökumenische“ Konzil vorwarf, als „Monophysiten“ das Unvermischte im Ungetrennten der menschlich-göttlichen Person Jesu Christi leugnen, streiten die Würdenträger ihrer Kirche bis in die Gegenwart vehement als „Intrige“ von „Dyophysiten“ ab. Was dogmatisch nun stimmt oder nicht: Sicher ist, dass ebenso wie die orthodoxen Kirchen Osteuropas auch die apostolische Kirche Armeniens eine Nationalkirche mit all den damit verbundenen Wirrungen ist, als wäre das Christentum sui generis nicht supranational. Was für alle Völker gilt: Viel zu rasch wendet sich das Nationale zum Nationalismus.
Mit einer Auffassung des Christentums als des nationalen Merkmales ihrer selbst grenzten sich die Armenier jedenfalls gegen alle Völker ab, die sie über Jahrhunderte bedrohten oder beherrschten, allen voran gegen die muslimischen der Araber und Türken. Als Reaktion darauf verblieben sie entweder in ihrer Heimat in innerer Immigration oder begaben sich in äußere Emigration. Solche Diaspora („Spjurk“) führte sie ins damalige Konstantinopel oder Smirna (heute Istanbul und Izmir), nach Saloniki (Thessaloniki) oder Athen, nach Italien und Frankreich oder nach Amerika und Russland, wo heute noch die größten Gemeinden der weltweit zehn Millionen Armenier leben.
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