Auch das, was man nicht sieht ...

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Ruth Beckermann zu "Those Who Go Those Who Stay" und dazu, was sich hinter Bildern verbirgt. Auch im Film.

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Ruth Beckermann zu "Those Who Go Those Who Stay" und dazu, was sich hinter Bildern verbirgt. Auch im Film.

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Ruth Beckermanns Filmessay "Those Who Go Those Who Stay" beginnt mit einem Statement: "Die Griechen berichten, wie Theseus von Ariadne einen Faden geschenkt bekam. Mit dem Faden orientierte sich Theseus im Labyrinth, fand den Minotaurus und tötete ihn. Von den Spuren, die Theseus hinterließ, als er im Labyrinth umherlief, erzählt der Mythos nichts."

Die Furche: Was ist der Ariadnefaden Ihres Film?

Ruth Beckermann: Das ist nicht leicht zu beantworten. Es sind zum einen meine Erinnerungen als Filmemacherin, es kommen meine inneren Themen vor, die ich oft bearbeitet habe. Zum anderen ist es das Motiv der Bewegung: Von Reise- über Fluchtbewegungen bis zur Kamerabewegung. Das Anfangszitat sagt etwas aus, das mir gut gefallen hat, nämlich dass es in antiken Geschichten oder Spielfilmen heute immer um den Plot geht, also um das Ziel. Wie geht die Geschichte weiter, wo ist die nächste Action, der nächste Mord? Mich interessieren aber vielmehr die Umund Irrwege, die Seitenblicke, das Abschweifen. Es ist ein sehr freier Film geworden. Noch nie habe ich mich soviel getraut. Ich bin vielleicht so etwas wie eine Flaneurin, eine Spaziergängerin. Ich wollte eine Art Komposition schaffen, ein Gedicht, eine Ballade.

Die Furche: Viele Bilder im Film wirken poetisch.

Beckermann: Ja? Ich wollte einen "schönen" Film machen, der nicht "beschönigt", wollte nicht wiederholen, was man sowieso im Fernsehen sieht, sondern Dinge zeigen, die man sonst nicht sehen würde, etwa dass Europa heute ganz anders aussieht als vor zehn Jahren.

Die Furche: Die Bilder leben von Nuancen, von Augenblicken. In welchem Verhältnis stehen in Ihren Filmen Planung und Zufall?

Beckermann: Ich überlege und lese sehr viel in der Vorbereitung. Vor Ort agiere ich trotzdem spontan und werfe oft den Drehplan um. Manchmal denke ich mir, ich habe etwas ganz anderes gedreht, als ich vorhatte. Wenn ich aber den fertigen Film sehe, merke ich, dass er doch das ist, was er ursprünglich werden sollte. Der Zufall hat für mich große Bedeutung. Wenn ich drehe, bin ich so aufgeregt. Es ist wie ein Trip, bei dem man auf alles anspringt. Die Furche: Stilistisch ist der Film ein Essay.

Was macht diese Hybridform zwischen fiktionalem und dokumentarischem Erzählen aus?

Beckermann: Der Essay geht per definitionem von einer Kleinigkeit aus, beispielsweise von dieser Melange hier am Tisch mit dem Glas Wasser. Von dort aus beginnt er Kreise zu ziehen, größer zu werden, vielleicht politisch, philosophisch, oder historisch. Ich wollte im Film Skizzen oder Miniaturen schaffen und sie in einer assoziativen Weise wie in einer Art Collage zusammensetzen. So, als würde man ein Buch durchblättern und mal da hängen bleiben, mal da. Auch als Zuschauerin oder Zuschauer des Films darf man mal abschweifen und eine Passage versäumen, dann wieder woanders einsteigen. Ich möchte, dass man durch den Film spazieren kann - wenn man das kann, denn diese Offenheit muss man mitbringen. Es ist ein sehr freier Film geworden. Aber ich glaube, dass er Menschen Lust machen kann, mal etwas anderes zu sehen und mitzuspazieren.

Die Furche: Gibt es Momente, die es nicht auf Band geschafft haben?

Beckermann: Das, was man nicht sieht, nicht filmen kann, ist für mich ein Thema des Films: In Prato kann man nicht in die Fabriken hinein. Im größten Flüchtlingslager Europas auf Sizilien, hätte ich filmen können. Aber was hätte ich gesehen? Nur das, was man mir zeigt. Beim Dreh auf Lampedusa finde ich einen Schwenk unglaublich wichtig: von den Jachten und braungebrannten Touristen hinüber zu den Flüchtlingsbooten, die in der Nacht zuvor - zum Glück - noch angekommen sind. Auf Militärgebiet darf man nicht filmen. Die Boote lagen gezielt dort, wo man eigentlich nicht hinsieht, wir konnten sie gerade noch einfangen, indem wir unser Stativ ganz am Ende des Jachten-Anlege-Stegs positioniert haben. Es wird heute soviel versteckt in Europa. Wir glauben, alles zu wissen, aber das stimmt überhaupt nicht. Das ist auch das Problem beim Dokumentarfilm: Was passiert dort, wo wir nicht drehen dürfen? Die Frage nach dem, was außerhalb des Bildes ist, stelle ich mir immer mehr.

Filme

"American Passages"(2011), "Zorros Bar Mizwa"(2006), "Homemad(e)" (2001), "Jenseits des Krieges"(1996)

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