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Aus der orthodoxen Glaubenswelt

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DAS BUCH DER HEILIGEN GESÄNGE DER OSTKIRCHE. Aus der orthodoxen Glaubenswelt. Von Ernst Benz, Hans Thum und Constantin F1 o r o s. Furche-Verlag, Hamburg. 210 Seiten. Preis 48 DM.

Dieses Buch enthält mehr als die Übertragungen von ausgewählten Gesängen der Ostkirche. Es ist ein Kompendium der orthodoxen Glaubenswelt, eine Zusammenfassung der Liturgie und ein AbriB der Religionsgeschichte, nicht so sehr zum Gebrauch der Gläubigen der Ostkirchen als zum Nutzen der westlichen Welt. Damit leistet dieses Buch einen echten Beitrag zur Vermehrung des Verständnisses unter Glaubensbrüdern.

Der Verlag versucht gar nicht erst, unter dem Mantel des Ästhetizismus sozusagen unterschwellige Propaganda zu machen. Gleich im einleitenden Artikel von Ernst Benz wird die These vertreten, die Glaubenslehre der Ostkirche sei so eng mit der Gemeinde verknüpft, daß eine rein ästhetische Würdigung außerhalb des Rahmens der gläubigen Zustimmung undenkbar erscheint. Wenn in diesem Buch trotzdem neben der wissenschaftlichen Dokumentierung die ästhetisch zu würdigende Übertragung liturgischer Bestandteile unternommen wird, dann unter dem Vorbehalt, daß hier nur ein Teil des Ganzen vorgelegt wird, der keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit macht. Wie sehr diese Ansicht den Autoren selbst zum Gebot wurde, geht schon aus dem hervor, daß von den 210 Großformatseiten des Buches fast 100 dem einordnenden Kommentar, 22 dem ergänzenden Bild und noch etliche einem reichhaltigen Schallplatten- und Literaturnachweis dienen. Um noch ein übriges zu tun, ist dem Band eine 25-Zentimeter-Langspielplatte beigegeben, auf der Kirchenmusik der griechischen und der russischen Kirche aufgenommen wurde. Soweit also ein Buch dazu überhaupt imstande ist, gibt es alles, was dazu beiträgt, ein Produkt der Literatur über den Status einer bloßen „Lektüre“ hinauszuheben.

Viele Leser, denen das Interesse für die orthodoxe Kirche vielleicht a priori fehlt, werden dennoch über den Umweg des literarischen Genusses Zugang zum Verständnis finden. Die Hymnentexte, die von Hans Thum aus dem griechischen Original übertragen wurden, haben in sich die Kraft, auch ein rein literarisches Interesse hoch zu befriedigen. Fürs erste fällt die Sprachgewalt dieser Gesänge auf, die Dichte ihrer Aussage und die Farbigkeit ihres Ausdrucks. Der Leser wird über die historische Begründung dieser Qualitäten belehrt: Sie beruht nicht zuletzt auf dem bunten Völkergemisch der Ostkirche, auf dem Umstand, daß noch im 5. und 6. Jahrhundert die Hauptkirchen der großen Patriarchate ihre eigene Liturgie feierten, und daß der schließliche Verschmelzungsprozeß — unter Führung der Hagia Sophia von Konstantinopel — nicht auch schon den Beginn der Petrifikation bedeutete. Das Zustandekommen dieser reichhaltigen Liturgie und ihres sprachlichen Ausdrucks wird jedoch damit erklärt, daß in den ersten Jahrhunderten in den verschiedenen Hauptgemeinden eine kaum mehr vorstellbare schöpferische Freiheit herrschte, die — der Selektion der Gemeinde unterliegend — Individualität und Allgemeingültigkeit auf das beste verschmolz. Dazu kommt die Besonderheit der Ostkirchenliturgie, die das Lehramt nicht vom Gottesdienst trennt, sondern das Dogma zum Bestandteil der Liturgie werden läßt. Dadurch dringt in die Gesänge der Ostkirche eine Fülle von Bildern und Vorstellungen ein, die Liturgie und Dogma, Anbetung und Bekenntnis, Gebet und theologische Meditation in einer Weise vermengen, die der westlichen Christenheit fremd ist.

Historisch ist das Werden dieser bilderreichen, ausdrucksstarken Sprache nicht zuletzt eine Folge der häretischen Bewegungen des dritten bis fünften Jahrhunderts, deren dogmatische Schlichtung nicht so sehr durch theologische Streitschriften all im Widerstreit der Kirchengesänge gesucht wurde. Die Summa der Entwicklung in der orthodoxen Hymnographie gibt Benz: „So enthalten die liturgischen Bücher der orthodoxen Kirche in ihren Hymnen die Quintessenz der geistigen Erfahrung, der visionären Schau, der theologischen Meditation und Spekulation und der asketischen Praxis fast eines Jahrhunderts und vereinigen in sich den Geist der Mönche, Einsiedler, Heiligen und Bischöfe aus der thebaischen und nitri-schen Wüste, aus Jerusalem, Alexandrien, Antiochien, vom Sinai, aus Palästina, aus dem Studioskloster, aus dem Kloster des heiligen Sabbas, aus einzelnen Kellia beim Hof des Patriarchen von Konstantinopel — wahrlich eine einzigartig geistliche Emte, die hier die Kirche in ihrer liturgischen Schatzkammer geborgen hat, und deren Ertrag sie täglich aufs neue ihren Gläubigen auf der ganzen Erde spendet.“

Die Tätigkeit des Konservators in dieser Schatzkammer ist die eines Ubersetzers. Das Vielsprachenprinzip der Ostkirche macht eine Übersetzungsweise nötig, die das Wesen des zu übertragenden Gesangs ebenso erfaßt wie dessen Buchstaben. Selbst die Form des Originals muß so weit als möglich gewahrt werden, was soweit geht, daß der Übersetzer an die Akzente und deren Zahl gebunden ist und sogar ah die Silbenzahl — glücklicherweise nicht an die Quantitierung des Altgriechischen, das ja in den ersten Jahrhunderten von der akzentgebundenen Umgangssprache ersetzt wurde. Der Übersetzer, der gerade in diesem Fall Dichter und Gelehrter sein muß, gibt das Beispiel einer solchen mühsamen Übertragung, das für beide Funktionen dastehen kann:

Sie, die Jungfrau, Ihn heute.

Der überragt das Sein, gebärt.

Die Erde mit der Grotte

Ihn, den Unnahbaren, beschert.

Die Engel mit den Hirten Ihn gemeinsam preisen.

Die Magier, dem Sterne folgend, hin zu Ihm reisen.

Für uns gebar sie das Kindlein,

Das zugleich auch ist Gott von Aeon zu Aeonl

In diesem Gesang findet sich auch ein Hinweis auf die Tatsache, daß er nur als Teil des Ganzen gewertet werden darf; ein Teil des Ganzen, wie auch beispielsweise die traditionelle Kunst der Ikone ein Teil des Ganzen ist. Die Verbindung ergibt sich durch die Anspielung auf die archetypische Vorstellung von der Höhlengeburt Christi, wie sie die Weihnachtsikone zeigen an Stelle der abendländischen Vorstellung des Stalles.

Das kurze Beispiel mag einen Eindruck von der Gewalt der Sprache geben, die wohl auch durch die Notwendigkeit der Ubersetzung zusätzlich stilisiert erscheint, aber sicher schon in nuce einen Bilderreichtum besitzt, der einem Rainer Maria Rilke Ehre gemacht hätte. Ob eine Feinheit des Originals, die in der Übertragung ebenfalls gewahrt wird, nämlich das Festhalten an einer mystischen Zahlensymbolik, die sich in bestimmten Formationen rhythmischer Art äußert, tatsächlich vorhanden oder nur Folge des Spekulationsgeistes ist, wage ich nicht zu entscheiden, doch neige ich der letzteren Ansicht zu, da ähnliche Kabalistik in extremer Form auf anderen Gebieten, etwa in der Musik des Barocks, bereits eindeutig ad absurdum geführt wurde.

Die Musik kommt im literarischen Teil des Buchs kürzer weg, als es notwendig wäre, da zumindest Reproduktionen von Neumen-Texten usw. die Vorstellung unterstützt hätten. Constantin Floros gibt einen Abriß der historischen Entwicklung, der sich jedoch nicht auf das rein Musikalische beschränkt und damit zu Wiederholungen führt. Wie überhaupt die Koordinierung der Arbeiten nicht einwandfrei ist. Aber Fehler, wie etwa der verstümmelte Satz im dritten Absatz von Seite 59, sollten in einem so teuren, bibliophilen Werk nicht vorkommen, das allerdings ansonsten weder in der graphischen Gestaltung noch im Druck etwas zu wünschen übrig läßt. Die Bilder, von verschiedenen Photographen stammend, haben künstlerischen Wert. Schließlich sei noch die Schallplatte (Philips) erwähnt: Sie weist auf der einen Seite Gesänge der griechischen, auf der anderen Seite Kirchenlieder der russischen orthodoxen Kirche auf und läßt so nicht nur den ungeheuren Stilunterschied — hier Einstimmigkeit mit Orientalismus, dort Mehrstimmigkeit in der Satzart des 19. Jahrhunderts — erkennen, sondern auch das Paradoxon, daß die Ostkirche anders als die römische, nur eine Einheit des geistigen Inhalts, nicht aber eine solche der Sprache und der Musik anstrebte. Dies ist jedoch nur eine der vielen Fremdheiten, die durch das verdienstvolle Buch gemildert oder beseitigt werden sollen.

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