Aus einer Vision wirkliche Welt machen

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Christen konfrontieren die Politik mit Missständen und lassen manche Politiker als falsche Propheten erscheinen, deren Worte nicht mit den Taten übereinstimmen.

Es scheinen unrealistische unerfüllbare Forderungen zu sein, die in der Bergpredigt gestellt werden: Die Feinde zu lieben und dem, der einen auf die rechte Wange schlägt, auch die andere hinzuhalten. Hier ist die Rede von der Vision einer idealen menschlichen Gesellschaft, die auf ein friedliches Zusammenleben ohne Gewalt, auf gemeinsames Teilen und gegenseitiges Verständnis und Vertrauen gegründet sein soll.

Die Geschichte des Christentums, seine Ausbreitung zur Weltreligion und seine Entwicklung zu einem politischen Machtfaktor zeigt, wie ideal gemeinte neue Weltordnungen zur alten Ordnung unter anderen Vorzeichen führen. Der Traum von einer besseren Welt, von einem guten Leben für alle, ist der Menschheit aber nicht auszutreiben und Ideen zur Verwirklichung dieses Traums werden die Menschen immer aufs Neue faszinieren, seien sie religiös oder politisch motiviert. Die Geschichte des Scheiterns der Umsetzung beweist nicht nur die Beständigkeit des Traumes, sondern zeigt auch, dass jede dieser Anstrengungen Spuren hinterlässt, die Schritte in Richtung der möglichen Verwirklichung der Utopie sind.

Diese Erfahrung ist wohl die Basis des Hoffnungsprinzips, das auch nicht religiöse Menschen bestärkt, zu glauben, dass das Gute möglich ist. Dass es den festen Grund gibt, auf dem ein Haus errichtet werden kann und, dass Engagement nicht vergeblich ist, sondern als Salz der Erde wirken kann.

Diese Gemeinsamkeiten oder Überschneidungen von politischem und religiösem Engagement sind auch bei den Grünen zu finden. Zum einen waren in den Bewegungen, aus denen die Partei entstanden ist, viele Christinnen und Christen engagiert, die sich für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und die Bewahrung der Umwelt als Schöpfung Gottes einsetzten, zum anderen gibt es in vielen Bereichen der Gesellschaft gemeinsame Zielvorstellungen und gemeinsames Handeln mit christlichen Gruppierungen. Ein gemeinsames Thema ist die Sorge über wachsende Tendenzen der Entsolidarisierung durch den Abbau des Sozialstaates und die steigende Zahl von Menschen, die in Armut leben.

Es sind Caritas und Diakonie, die auf die Auswirkungen der Sparpolitik auf die Armen und Schwachen hinweisen. Der Vorwurf, diese Organisationen stabilisierten durch ihre Tätigkeit der Nächstenliebe nur die ungerechten Systeme, indem sie das Leid der Opfer linderten, ohne dass die Ursachen des Leides sich veränderten, ist längst nicht mehr aufrecht zu erhalten.

Sie konfrontieren die Politik mit den Missständen und lassen manchen Politiker als einen falschen Propheten erscheinen, dessen Worte nicht mit seinen Taten übereinstimmen. Wieso kann in einem Land, in dem eine christliche Partei an der Regierung - und eine sozialistische die stimmenstärkste - ist, mit Flüchtlingen in einer Weise umgegangen werden, die den Menschenrechten und erst recht der Barmherzigkeit, die in der Bergpredigt gepriesen wird, Hohn sprechen? Wieso nimmt in diesem reichen Land die Zahl der Armen zu? Warum müssen Menschen auf der Straße leben? Das sind Fragen, die Gläubige und Ungläubige ohne Probleme mit einer Stimme stellen können.

Die biblische Forderung nach Nächstenliebe und der politische Begriff der Solidarität finden Ausdruck in Konzepten zu mehr Gerechtigkeit, wie das Modell eines Grundeinkommens, das die Katholische Sozialakademie entwickelt hat, und der grüne Vorschlag einer Grundsicherung. Sie sind Beispiele von sehr ähnlichen Wegen zur einer gerechteren Verteilung des Reichtums in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung.

Die Bergpredigt ist nicht nur ein Katalog von Forderungen, sie spricht auch von Trost und Verheißung. Ich denke, dass auch gläubige Menschen das nicht nur spirituell und schon gar nicht als Vertröstung verstehen, sondern als Ermutigung, sich dafür einzusetzen, dass die Trauernden getröstet werden, die Gewaltlosen das Land erben und die Friedensstifter die Führungspositionen einnehmen, damit das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens kein unerfüllbarer Traum bleibt, sondern ein Stück wirkliche Welt wird.

Der Autor ist Bundessprecher der Grünen.

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