Ausgehöhlte Demokratie

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György Dalos warnt im Gespräch mit der furche vor einer mit technofaschistischen Tendenzen verunstalteten, nichtssagenden Scheindemokratie.

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György Dalos warnt im Gespräch mit der furche vor einer mit technofaschistischen Tendenzen verunstalteten, nichtssagenden Scheindemokratie.

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die furche: Ungarn hat nach Rumänien, Bulgarien und Spanien die viertgrößte Roma-Bevölkerungsgruppe unter allen europäischen Staaten. Ihre Zahl wird auf 600-800.000 geschätzt. Im März sorgte die Nachricht, dass einer ungarischen Roma-Familie in Straßburg politisches Asyl zuerkannt wurde, für großes Aufsehen. Unter dem Druck der EU beschloss nun die ungarische Regierung ein Programm zur Verbesserung der Lage der Roma. Wie bewerten Sie die Situation der Roma?

György Dalos: Anders als der Antisemitismus, der sich in Ungarn auf eine kaum definierbare Minderheit bezieht und im Grunde eine politische Augenauswischerei ist (was seine Gefährlichkeit keineswegs mindert), basiert die Romafeindlichkeit der Rechtsradikalen auf einem realen sozialen Konflikt. In einer Gesellschaft, in der große Teile sich als Verlierer des Systemswechsels fühlen, sind die Ärmsten der Armen, die Hunderttausende von Zigeunern, zu Prügelknaben der Nation geworden. Von Ressentiments und Hass waren sie auch früher umgeben, aber einerseits war die soziale Kluft zwischen ihnen und der Normalbevölkerung nicht so groß wie heute, andererseits wurden in der kommunistischen Ära Kadar fast alle sozialen und kulturellen Spannungen unter den Teppich gekehrt.

die furche: Der Ombudsman des ungarischen Parlaments für Minderheiten, Jenö Kaltenbach, warnt davor, dass wenn es nicht gelinge die Situation noch rechtzeitig zu konsolidieren, eine Radikalisierung auf beiden Seiten drohe. Fürchten Sie Ähnliches?

Dalos: Das Problem der Roma in Ungarn und in ganz Osteuropa ist der eigentliche soziale Sprengstoff. Eine mehrheitlich unter dem Existenzminimum dahinvegetierende, von Ghettoisierung bedrohte, an der Hautfarbe identifizierbare und kulturell rückständige Menge steht hier einer Gesellschaft gegenüber, die - selbst von existentiellen Ängsten geplagt - dieser eher Klasse als Rasse immer weniger Aufnahmebereitschaft entgegenbringt.

Die Verantwortung der Rechtsradikalen in der Romafrage besteht darin, dass sie diese spontane Ablehnung politisch instrumentalisieren und dadurch die Agressivität auf beiden Seiten künstlich steigern. Auch die Regierungen - in Ungarn, Tschechien, Slowakei und Rumänien - sind nicht freizusprechen, da sie bestenfalls gleichgültig diesem bedrohlichen Prozess zusahen und zusehen.

Ein Element der Gefahr steckt auch in der Unfähigkeit der Romagesellschaft ihre Interessen politisch zu artikulieren und einen Konsens zur Überwindung des eigenen Elends und der Rückständigkeit zu schaffen. Eine vage Hoffnung in diese Richtung bieten die mehr als fünfhundert Selbstverwaltungen von Gemeinden mit Roma-Mehrheit sowie die Tätigkeit ihrer kulturellen Institutionen.

die furche: Zum Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn: Wie erklären Sie zum einen, dass in Österreich so wenig Interesse für das Nachbarland besteht, zum anderen, wie bewerten Sie die Entwicklung dieser beiden Länder seit dem Fall des Eisernen Vorhangs?

Dalos: Für Ungarn bedeutete 1989 den großen Aufbruch, die Gründung einer demokratischen Republik, die Einführung eines parlamentarisch-pluralistischen Systems und die allgemeine Anerkennung dieser Leistungen durch die europäische Öffentlichkeit. Für Österreich hingegen ging der Abbau der Blockkonfrontation mit einem ziemlichen Bedeutungsverlust einher. Die Republik verlor die Rolle als Drehscheibe, als vermittelnde Kraft zwischen Ost und West. (Denken wir an die Auswirkung des Staatsvertrags auf den ungarischen Volksaufstand 1956, dessen populärste Forderung die Neutralität a la Österreich war.) Vorher erreichte Österreich mit der Ära Kreisky den Höhepunkt seines internationalen Ansehens.

Es ist anzunehmen, dass vieles, was in Österreich seit der Mitte der achtziger Jahre passiert war, eng mit diesem Bedeutungsverlust zusammenhängt. Jedenfalls gibt es keine "klassischen", direkt ökonomischen oder sozialen Spannungen, die den jetzigen Rechtsruck hinreichend erklären würden. Gleichzeitig findet man genug psychologische Gründe für den Rückzug in sich selbst, für die Provinzialisierung der ganzen österreichischen Politik, die paradoxerweise mit dem Beitritt des Landes in die EU zusammenfällt.

die furche: Im Österreich nach der politischen Wende ist auch die Rede von einer österreichisch-ungarischen Achse wie ehedem, also zur Zeit Horthys und des Ständestaats. Österreich und Ungarn, dazu könnte noch Italien kommen - zeichnet sich eine mitteleuropäische rechte Achse ab?

Dalos: Obwohl ich diese unheilige Allianz zwischen der ÖVP und FPÖ innerlich ablehne, glaube ich kaum, dass sich Geschichte so einfach wiederholen lässt. Im Klartext: Ich kann mir keine Wiedergeburt des Klerikofaschismus oder des Ständestaates vorstellen. Was jedoch durchaus passieren kann und bereits die Qualität dieser Demokratie bedrohen könnte, wäre ein halbwegs demokratisch pluralistisches System angereichert mit technofaschistischen Tendenzen eines Berlusconi. Das ist, was in diesem Teil Europas - also keineswegs nur in Österreich - sichtbar wird. Ich befürchte keine Diktatur, aber eine immer schlechter werdende, ausgehöhlte, nichtssagende Demokratie.

Gerechtigkeitshalber muss ich jedoch anmerken, dass dieser Prozess nicht erst mit Haiders Vormarsch begann. Der wahlarithmetische GAU konnte früher oder später in allen möglichen Variationen erfolgen, da die allzu lange rotationslose Herrschaft der großen Parteien die Prinzipienlosigkeit, den Zynismus und den Opportunismus schon lange begünstigt hatte.

die furche: Wenn Sie die Haider-FPÖ und die rechtsextreme Ungarische Wahrheits- und Lebenspartei (MIEP) vergleichen, wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede?

Dalos: Haider ist in meinen Augen keine herausragende politische Persönlichkeit und noch weniger ein Ideologe - so wimmelt es in seinem Buch "Freiheit, die ich meine" von eklektischen Gemeinplätzen. Er ist ein geschickter Spieler und operiert in seiner Demagogie - den ungarischen Rechtsradikalen nicht unähnlich - mit dem Gewöhnungseffekt. Er probiert immer wieder radikale Sprüche an der Öffentlichkeit aus und tastet sich allmählich nach vorne. Er reitet auf den Wellen der Skandale, die offensichtlich die Dynamik der österreichischen Politik bestimmen.

Typisch in seinem Werdegang waren für mich die Jahre, als er noch Geheimtip war. Er hatte schon annähernd zwanzig Prozent der Wähler hinter sich, aber seine Anhängerschaft ließ sich kaum identifizieren. Ich erinnere mich an die Zeit als ich durch die Wiener Straßen ging und schaute, welcher von den Passanten jener "jeder fünfte" sein könnte.

Bis 1998 habe ich nie einen Menschen getroffen, der gesagt hätte, er hätte die FPÖ gewählt. Vielleicht lag es daran, dass ich nicht in den "richtigen" Kreisen verkehrte, aber ich neige eher zur Annahme, dass Teile der Wählerschaft in Österreich nicht gerne offen zu ihrer Wahl stehen. Die Ungarn sind in dieser Hinsicht ehrlicher, zudem sind das Vokabular und die Umgangsformen brutaler. Offen gesagt, weiß ich nicht, ob das besser oder schlechter ist.

die furche: Gerade im nachkommunistischen Ungarn zeigt sich eine große Politikverdrossenheit. Warum?

Dalos: Eine große Anzahl der Wahlbürger glaubt immer weniger daran, dass die politischen Parteien wirklich alternative Programme anbieten. In Ungarn ist das besonders bei den lokalen Abstimmungen sichtbar - diese wurden aufgrund mangelnden Interesses mehrfach für ungültig erklärt. Ich befürchte, was konkret die bevorstehenden Parlamentswahlen 2002 anbelangt, dass diese Passivität vor allem die linke und liberale Seite schwächen wird - die Mitte-Rechts- und Rechtsradikale Parteien können ihre Anhängerschaft mit mehr Erfolg mobilisieren. Das Wahlsystem kann allzu leicht eine Konstellation schaffen, in der Istvan Csurkas offen rassistische MIEP salon- und regierungsfähig wird. Dies wäre ein wahres Unglück für das Land.

Das Gespräch führte Karl Pfeifer Zur Person: György Dalos 1943 als Sohn einer jüdischen Familie in Budapest geboren, studierte György Dalos an der Moskauer Universität im Fachbereich deutsche Geschichte. Bis 1968 war er Mitglied der Ungarischen KP. In demselben Jahr wurde er wegen staatsfeindlicher Aktivitäten verurteilt ("Budapester Maoistenprozesse") und erhielt Berufs- und teilweise Publikationsverbot. In Folge arbeitete Dalos als Übersetzer und engagierte sich in der demokratischen Opposition Ungarns.

Seit 1987 lebte der mehrfach ausgezeichnete Autor abwechselnd in Wien und Budapest und arbeitete für deutsche Rundfunksender und Zeitungen. Von 1995 bis 1999 war Dalos Direktor des ungarischen Kulturinstituts in Berlin und literarischer Kurator des Schwerpunktthemas "Ungarn unbegrenzt" auf der Frankfurter Buchmesse 1999. Zur Zeit lebt Dalos als freischaffender Autor in Berlin.

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