AUSTAUSCH zwischen Mensch und Gott

19451960198020002020

Seit der Domestizierung des Feuers vor einer Million Jahren können Menschen ihre Nahrung transformieren. Das führte zu Ritualisierung: Essen und Religion sind miteinander verbunden.

19451960198020002020

Seit der Domestizierung des Feuers vor einer Million Jahren können Menschen ihre Nahrung transformieren. Das führte zu Ritualisierung: Essen und Religion sind miteinander verbunden.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Geschichte der Menschheit ist auch die Geschichte des Kochens, sagt Ferran Adrià, zur Zeit der Welt einflussreichster Koch und Proponent der Molekularküche. Die meisten der heute erfolgreichen jüngeren Köche haben bei ihm in seinem Restaurant elBulli gelernt. Den Spanier Adrià fasziniert nicht nur das "Wie" des Kochens, sondern auch das "Warum" der chemischen und physikalischen Prozesse beim Kochen. Das hat ihn zu völlig neuen Gerichten inspiriert - etwa Kaviar aus Melonen oder Ravioli, gehüllt nicht in Teig, sondern eine hauchdünne Mixtur aus Soja, Olivenöl und japanischen Kartoffeln. Kochen ist für Adrià ein schöpferischer Prozess, der sich analytischer Methoden bedient und sich philosophisch artikuliert - und bei dem selbst Gestik und Mimik der Genießenden analysiert werden, wie zurzeit in der Ausstellung zum kreativen Prozess Kochen in Madrid zu sehen.

Vor zwei Jahren hat Adrià das elBulli geschlossen und widmet sich nun nur noch der Forschung. Ihn fasziniert nicht nur die Zukunft, sonder auch die Vergangenheit des Kochens: aßen die Menschen anfangs nur, was sie sammeln konnten - Gräser, Körner, Pflanzen - entdeckten sie später, dass sie mit Hilfe von Werkzeugen auch Fleisch toter Tiere essen konnten. Noch später begannen sie, Tiere zu jagen. Mit der Domestizierung des Feuers vor ungefähr einer Million Jahren änderte sich das Verhältnis der Menschen zur Natur. Feuer erlaubte die Transformation von Nahrungsmitteln - aus Rohem wurde Gekochtes, Gebratenes, Geräuchertes - mit anderen Worten, Natur wird in Kultur verwandelt, um dem Naturwesen Mensch das bessere Überleben zu ermöglichen.

Essen gibt Menschen Anteil am Kreislauf der Natur: Was Menschen essen, ist ein Ergebnis von Kultur; die kulturell geformte Nahrung wiederum wird durch den Stoffwechsel in elementare Bausteine zerlegt, die lebensnotwendig sind, und dieses Leben ist wiederum kulturell geformt. Offenbar hatten bereits die Menschen, die in der Nähe von Brünn vor etwa 30.000 Jahren lebten, Speiseregeln -sie aßen gerne und viel Mammutfleisch, doch ihre Hunde bekamen nur Rentierfleisch, wie die Überreste zeigen.

Über die Religion des Paläolithikums weiß man so gut wie nichts - zwar hat man zwischen Usbekistan, Spanien, Südfrankreich und dem Irak vereinzelt Gräber gefunden, doch spärlichste Grabbeigaben und fehlende Schrift lassen keine Rückschlüsse auf Rituale zu. Mag sein, dass es Tieropfer gab - die prähistorischen Höhlenbilder werden manchmal dahingehend gedeutet.

Die Domestizierung des Getreides

Jahrtausende später, etwa 7000 v. Chr., wird in Afrika erstmals Getreide, in China und Indien Reis kultiviert -die Datierungen sind umstritten. Nach der Domestizierung des Feuers bringt die Domestizierung des Getreides einen neuen Innovationsschub für Kochen und Essen. Korn lässt sich zu Mehl vermahlen, aus Mehl können Brei, aber auch getrocknete oder gebackene Fladenbrote sowie Hefe- oder Sauerteig-Brote hergestellt werden. Die indischen Fladenbrote oder das äthiopische Injera, aber auch die jüdischen Mazzesbrote verweisen in diese Zeiten. Um 5000 v. Chr. rühmen babylonische Tontafeln die Künste guter Köche; gutes Essen scheint auch die babylonischen Gottheiten angezogen zu haben. Im Gilgamesch-Epos wird erzählt, dass sie sich durch umfangreiche Opfergaben von Essen geschmeichelt fühlten und daher den Menschen Hilfe und Schutz gewährten.

Reiche Opferrituale gab es auch bei den indoeuropäischen Nomaden, die über Jahrhunderte ins indische Tiefland einwanderten. Das Feuer des eigenen Herdes war Ort des Opfers, doch es gab auch große öffentliche Opferfeste. Die Brahmanen waren die Ritualspezialisten, und Agni, der Gott des Feuers, übermittelte den vedischen Gottheiten -Indra zum Beispiel - die Essenz der Opfergaben. Auch die homerischen Götter - entfernte Verwandte der indischen Gottheiten - bekamen die Essenz von Fett und Fleisch, das zu ihren Ehren auf den Altären verbrannt wurde. Dafür gewährten sie den Menschen Hilfe und Unterstützung.

Dieser Austausch von Nahrung zwischen der Sphäre der Menschen und der Sphäre der Gottheiten ist ein Geben und Erhalten von Gaben - do ut des. Zugleich kann es ein Zeichen von Solidarität zwischen den Menschen sein, wenn etwa das Opferfleisch verteilt wird wie beim islamischen Opferfest. Speisen können auch in Segensträger verwandelt werden wie beim hinduistischen prasad ("Barmherzigkeit","Gnade"). Hindus bringen Gaben, Geld, Lebensmittel - die Brahmanenpriester präsentieren diese der Gottheit, und beim Verlassen des Tempels erhalten die Gläubigen dann Speisen - manchmal Reis, manchmal spezielles Gebäck, das den Segen der Gottheit enthält, der durchs Essen auf die Menschen übergehen soll.

Alles ist Nahrung, sagen die klassischen indischen Texte, denn Nahrung (anna) ist gröbste Manifestation des brahman, der kosmischen Essenz der Welt. Alle Lebewesen entstehen aus Nahrung und sind Nahrung für andere Wesen - so ist Nahrung das manifeste Prinzip des Kosmos. Nahrung hat nicht nur materielle, sondern auch subtile Seiten - etwa fördert oder hindert sie die geistige Tätigkeit des Menschen oder beeinflusst seine Gemütsverfassung. Darüber sind sich alle traditionellen Medizin-Systeme - das indische Ayurveda, die traditionelle chinesische Medizin und die griechischmittelalterliche Säftelehre - einig: Nahrung ist die erste Medizin, und sie muss dem Menschentyp entsprechen. Nicht alles ist für alle gleich angemessen.

Zwischen "rein" und "unrein"

Religiös begründete Nahrungstabus bestimmen, was für wen als "rein" gilt. Damit werden zugleich soziale Grenzen gezogen, etwa im indischen Kastensystem; aber auch die Hebräische Bibel -ähnlich alt wie die Hindu-Traditionen - kennt Nahrungstabus für das Volk Israel. Erlaubte Nahrung ist "rein (koscher)", verbotene Nahrung ist "unrein (trefe) " und macht "unrein" auf einer rituellen Ebene. Die Unterscheidung "erlaubt (halal) - verboten (haram)" spielt auch im Islam eine große Rolle, nicht nur bei Lebensmitteln, sondern auch bei allem, was Menschen tun.

Das Neue Testament lehnt materielle Reinheitsvorstellungen ab: nicht was durch den Mund hineingeht, macht Menschen rein oder unrein, sondern was aus dem Herzen, der Mitte des Menschen kommt, sagt Jesus. Christen sammeln sich beim Miteinander-Teilen von Brot und Wein, den Grundnahrungsmitteln des Mittelmeerraums. Im frühen Christentum war die Eucharistie konstitutiv für die Gemeinschaft, ein Miteinander-Feiern, das auch den Alltag spirituell durchdringen sollte. Im Laufe der Jahrtausende entstand daraus ein hochritualisiertes Geschehen, doch seit dem Zweiten Vatikanum geht es wieder mehr ums Miteinander-Teilen von Brot und Wein.

Eine spirituelle Transformation

Bei "Religion und Essen" geht es auch um die Geschichte einer Art "spirituellen Transformation". Am frühesten findet sich dies vermutlich in den Upanishaden, heiligen Schriften der Hindus, die im ersten Jahrtausend v. Chr. entstanden. Der Akt des Essens wird spirituell reflektiert als ein Prozess wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen der Nahrung, dem Essenden und dem Wasser als der Bedingung allen Lebens. Essen wird als Transformationsprozess beschrieben, in dem sich Nahrung in Körperlichkeit und Atem verwandelt. Für die Upanishaden folgt daraus, dass nicht die Opferhandlung am Altar, das Verbrennen von Fleisch etc. das "wirksame Opfer" ist, sondern die Kultivierung des Atems und des inneren Feuers, des Feuers des Herzens. Dies ist der Beginn des Yoga, der Verbindung von (menschlichem) Atem mit dem Göttlichen (brahman). Der Buddha führt diese Gedanken einer subtilen Nahrung weiter und erklärt im Pali-Kanon, dass es vier Arten der Ernährung gebe: Essen und Trinken, die Berührung der Sinne durch das Wahrgenommene, die Bildung von Begriffen und viertens Bewusstwerden bzw. Verstehen. Die Übung der Achtsamkeit bezieht sich u.a. auf diese Formen der Ernährung. Im japanischen Zen-Buddhismus haben sich aus dieser Übung von Achtsamkeit u.a. der Tee-Weg, Cha-do, entwickelt. Die Einfachheit des "miteinander Tee trinken" ist hochästhetisch, und diese Ästhetik hat die japanische Esskultur (und Identität) maßgeblich geprägt.

Auf seiner Suche nach Inspirationen fürs Kochen entdeckte der katalanische Spitzenkoch Ferran Adrià diese japanische Küche. Nicht nur neue Zutaten wie Soja in allen Formen begeisterten ihn. Vor allem inspirierte ihn, dass die "spirituelle und poetische Form" und die "comunión con la naturalez", die für die Ästhetik des Cha-do charakteristisch ist, dem Kochen und Essen neue Dimensionen geben.

Eucharistiefeier: Vorbild für Teezeremonie

Was Ferran Adrià und andere Bewunderer der Ästhetik des Tee-Wegs meist nicht wissen: der Samurai Sen no Rikyu (1522-91), der prägend für den Tee-Weg war, gehörte zu einer Gruppe von Samurai, die Christen waren oder dem Christentum nahestanden. Heinrich Dumoulin, der Historiker des Zen-Buddhismus, schreibt, dass die Eucharistiefeier ein Vorbild für die Teezeremonie war.

Vielleicht kann ja die Haltung der Achtsamkeit und Hingabe, aus der die Ästhetik des Tee-Wegs kommt, heute Christen helfen, eine angemessene neue Weise des eucharistischen Miteinander-Teilens von Brot und Wein zu finden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung