Ausverkauf der Prinzipien

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Ende April wurde er vorgestellt, der Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Man sucht darin vergebens Begriffe wie Klassenkampf oder klassenlose Gesellschaft.

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Ende April wurde er vorgestellt, der Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Man sucht darin vergebens Begriffe wie Klassenkampf oder klassenlose Gesellschaft.

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Das Wort Kapital kommt überhaupt nur fünfmal vor und erscheint keineswegs als Feindbild. Auch mit dem Begriff der Klasse (er wird dreimal verwendet) gehen die Autoren des Entwurfes sparsam um. Klassenunterschiede seien überwunden, wird festgehalten. Man müsse allerdings darauf achten, daß nicht eine neue Kluft zwischen der Klasse der Informierten und der Uninformierten entstehe.

Der Markt wird positiv beurteilt und die Unterschiede zwischen selbständiger und unselbständiger Tätigkeit werden eingeebnet. Man ist Lichtjahre vom Austro-Marxismus - der neue Text nimmt weder auf Marx Bezug, noch spricht er vom Sozialismus - entfernt.

Aber nicht um die Inhalte des Programmentwurfs soll es hier gehen. Die SP-Neuausrichtung wirft neuerlich eine grundlegende Frage auf: Ist die Distanzierung der Parteien von ihren geistigen Wurzeln ein begrüßenswerter Schritt der Modernisierung oder ein folgenschweres Abgleiten in die Prinzipienlosigkeit?

Wie die Sozialdemokraten Abschied vom Marxismus nahmen, so haben die im Christlichen wurzelnden Volksparteien, die heute die Punze "konservativ" tragen, längst das "Hohe C" als einigendes Band aufgegeben.

Auf dem Grab Mahatma Ghandis steht ein Stein, in den eine Liste von sieben "Sünden gegen die Gesellschaft" eingemeißelt ist. Sie stammt von Ghandi selbst. An erster Stelle steht: "Politik ohne Prinzipien".

Was soll aber so schlimm an einer Politik ohne Prinzipien sein? Geht es bei der Politik nicht eher darum, die Gesellschaft effizient zu managen? Sind nicht die Anpassungen der Parteiprogramme deswegen zu begrüßen, weil endlich ideologischer Ballast abgeworfen wird?

Geistig heimatlos Die Antwort wird wohl ambivalent ausfallen müssen. Es ist sicher richtig, ideologische Positionen, die sich als menschenfeindlich erwiesen haben, aufzugeben. Daß sich die Parteien im Westen aber heute weitgehend auf reines Fortschrittsmanagement beschränken, hat eine schwerwiegende Konsequenz: Es trägt zu einem Phänomen bei, das sich in den modernen Gesellschaften immer weiter ausbreitet: die geistige Heimatlosigkeit.

Immer seltener wird jene Haltung, die vor allem noch in der Generation der heutigen Pensionisten anzutreffen war und ist: Für viele Menschen dieser Altersklasse - aber nicht nur für sie - waren die großen Parteien ihre geistige Heimat und nicht primär ein Sprungbrett für die Karriere oder eine Interessengemeinschaft zur Erlangung einer Gemeindewohnung oder eines Staatspostens. Da bestand ein Grundvertrauen, eine Identifikation, die nicht leicht erschüttert werden konnten.

Wie groß und selbstlos diese Identifikation sein konnte, wurde mir bei einem Bericht nach einer SPÖ-Wahlschlappe in Wien klar. Da zog ein TV-Reporterteam durch mehrere SP-Parteilokale: Die echte, tiefe Betroffenheit dieser Funktionäre der Parteibasis war ergreifend. Diese Menschen konnten es einfach nicht fassen, daß ihre SPÖ zu einer Partei wie jede andere geworden war, nicht mehr geistige Heimat des kleinen Mannes.

Nun kann man sagen: Die armen Leute haben eben die Zeit verschlafen. Heute spielt es das nicht mehr. Jetzt geht alles nüchterner her, nunmehr muß man auf Effizienz, internationale Konkurrenzfähigkeit, auf den Wirtschaftsstandort Österreich schauen. Wir brauchen ein effizientes Schulsystem, das Fertigkeiten und Kenntnisse von morgen rechtzeitig vermittelt, und eine hochmotivierte, mobile Arbeitskraft. Schluß mit den Sentimentalitäten!

Schon gut. Aber die Menschen sind nun einmal sentimental. Sie begnügen sich nicht damit, daß man ihnen als Heilsweg einen Fortschritt verordnet, der sie atemlos von einer Veränderung zur nächsten hetzt, der dazu führt, daß ihnen die Welt vor ihren Augen fremd wird.

Sekten im Aufwind Nicht nur die Parteien liefern heute keine Orientierungen und Deutungsmuster mehr. Ähnlich ergeht es den großen religiösen Gemeinschaften. Auch in den Kirchen bemühen sich viele, ihre Modernität unter Beweis zu stellen. So treten die Kirchen im Bewußtsein der Öffentlichkeit - vor allem im deutschsprachigen Raum, wo sie noch eine bedeutende gesellschaftliche Position einnehmen - als eindrucksvolle Organisationen in Erscheinung. Um sich nur ja nicht das Image der Fortschrittsfeindlichkeit einzuhandeln, vermeiden sie alles, was den Ruf, fundamentalistisch zu sein, eintragen könnte. Man kehrt daher caritative und sonstige Dienstleistungen hervor und spielt den Stellenwert der zeitlos gültigen Wahrheit herunter.

Die Anziehungskraft der Sekten und der Esoterik macht allerdings darauf aufmerksam, daß es mit der effizienten und gutgemeinten Dienstleistung nicht getan ist. Der Mensch braucht eben mehr als eine gut funktionierende, seine Bedürfnisse möglichst umfassend befriedigende Dienstleistungsgesellschaft.

Er bedarf der Fixpunkte, einer geistigen Beheimatung, der Deutung seiner Existenz. Er will sein Leben in einen Sinnbezug gestellt wissen, in einen Rahmen, der seinem Streben und seinem Tun in einem größeren Kontext Sinn gibt. Der große österreichische Psychiater Viktor Frankl hat das ausreichend belegt.

Eine Gesellschaft, die sich darauf beschränkt, pragmatisch Fortschrittsmanagement zu betreiben, das nichts anderes zum Ziel hat, als noch mehr von allem und jedem zu erzeugen, wird diesem unausrottbaren Anspruch des Menschen nicht gerecht. Es treibt die geistig heimatlosen und daher unbefriedigten Menschen konsequent in die Arme von Sekten, Gurus und "starken Männern" unterschiedlichster geistiger Provenienz. Sie vermitteln nämlich scheinbar jene Sicherheiten, die von den tragenden Elementen der Gesellschaft systematisch eliminiert werden.

Keine Gesellschaft kann auf Dauer überleben, wenn sie sich von ihren geistigen Wurzeln, ihrer geistigen Heimat so enfremdet, wie dies derzeit im ehemals christlichen Europa geschieht. Sie mag eine Zeitlang Höchstleistungen erbringen, aber sie befriedigt die tiefsten Bedürfnisse des Menschen nicht.

Daher ist die derzeitige Entideologisierung, die Reduzierung des Menschen auf die Rolle eines Rädchens im Getriebe, ein Irrweg. Unsere Zukunft entscheidet sich nicht an mehr Autobahnen und besseren Bankdienstleistungen, sondern an lebensträchtigen Antworten auf Fragen nach dem Sinn unserer Existenz.

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