Besinnt sich Europa?

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Angesichts der uns fast täglich erreichenden Horrormeldungen tut ein kühler Kopf not. Aber Europa muss sich auch die Frage stellen, ob und wie es noch Europa sein will.

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Angesichts der uns fast täglich erreichenden Horrormeldungen tut ein kühler Kopf not. Aber Europa muss sich auch die Frage stellen, ob und wie es noch Europa sein will.

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Der Anschlag von Saint-Étienne-du-Rouvray am Dienstag dieser Woche stellt auf der symbolischen Ebene zweifellos eine neue Dimension in der grauenvollen Chronik des islamistischen Terrors der jüngsten Zeit dar. Die barbarische Ermordung des greisen Priesters während des Wochentagsgottesdienstes in der nordfranzösischen Kleinstadt hat in einer bisher nicht dagewesenen Weise auf das Christentum beziehungsweise die katholische Kirche gezielt und stellt den Kampf der Islamisten damit auf eine explizit religiöse Ebene. Nicht nur in Reaktionen von Kirchenvertretern kam dies zum Ausdruck, auch die laizistisch gesinnte politische Spitze Frankreichs ist sich dessen offensichtlich bewusst.

Die Nahost-Expertin Karin Kneissl äußerte daher die Befürchtung, dass der Konflikt der Radikalislamisten mit dem Westen zusätzlich religiös aufgeladen werden könnte: einem fundamentalistischen Islam könnte demnächst ein wieder militanter werdendes Christentum gegenüberstehen, so Kneissl in der ZIB 2. Nein, Militanz kann nicht die Antwort auf noch so grausamen Terror sein.

Aber wenn Europa überleben will, wenn es diesen Kampf, in dem es sich unleugbar befindet, bestehen will, tut Rückbesinnung not.

Verwerfungen der "Willkommenskultur"

Die christlichen Kirchen - und insbesondere die katholische Kirche als größte Denomination - werden sich fragen müssen, wo und wofür sie stehen. Sie - und jeder einzelne Gläubige in ihnen -werden wieder verstärkt zum Leuchten bringen müssen, worum es ihnen zu tun ist: ihren Glauben, ihre Riten, ihre Tradition, ihre Werte. Sie werden sich aber auch selbstkritisch fragen müssen, ob sie nicht aus falsch verstandener Nächstenliebe oder aus Naivität oder aus dem Bedürfnis, einmal auf der "richtigen Seite" zu stehen, dem Vorschub geleistet haben, was als "Willkommenskultur" für jene Verwerfungen mitverantwortlich war, mit denen wir jetzt konfrontiert sind. Aber auch für die nichtchristlichen Europäer wird sich die Frage stellen, ob sie nicht wieder bewusster und ausdrücklicher Europäer sein wollen -was jedenfalls ein Bekenntnis zu den kulturchristlichen Wurzeln des Kontinents miteinschließen müsste. Geboten wäre vor allem eine Abkehr von der einseitigen Sicht auf die eigene Geschichte und Tradition als bloße Schuld- oder gar Kriminalgeschichte. Ohne irgendetwas zu verklären oder zu beschönigen, würde Europa wieder ein wenig Stolz auf das Eigene, Überkommene - aus dem sich erst Zukunft gewinnen lässt - gut tun.

Habituelle Selbstgeißelung

Demgegenüber galt ja lange Zeit fast so etwas wie habituelle Selbstgeißelung als intellektuelle europäische Tugend. In Erinnerung ist etwa noch die Aussage der Fraktionsvorsitzenden der deutschen Grünen, Katrin Göring-Eckardt, vom November letzten Jahres, der ebendiese Haltung zugrunde liegt: "Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich drauf!" Ein Satz, der angesichts der gegenwärtigen Lage und der Nachrichten, die uns beinahe täglich erreichen, nachgerade gespenstisch anmutet. Ja, ihr Land - und nicht nur dieses - hat sich drastisch geändert...

Vermutlich lässt sich ja alles, was für Europa insgesamt gilt, für Deutschland in besonderer Weise sagen. Deutschland mit seiner spezifischen Geschichte, seinen (behaupteten und tatsächlichen) Sonderwegen, seinem Hang zur "Totalität" im Wortsinn (des großen, umfassenden Ganzen). Nicht von ungefähr hat NZZ-Chefredakteur Eric Gujer kürzlich die von den Deutschen maßgeblich geprägte Willkommenspolitik als "die jüngste Kopfgeburt des deutschen Idealismus" bezeichnet.

Aber nicht nur für Deutschland gilt: Ohne die erwähnte Rückbesinnung wird Europa keine wünschenswerte Zukunft haben. Viel Zeit bleibt dafür freilich nicht.

rudolf.mitloehner@furche.at

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