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Wie Evangelikale beten und feiern. Michael Weiss besuchte den Sonntagsgottesdienst einer evangelikal freikirchlichen Gemeinde.

Ein angedeuteter Fisch, geformt aus einer geschwungenen Linie. Dieses Zeichen findet sich auf jedem der Autos wieder, die am Parkplatz vor dem Bundesschulzentrum Mistelbach abgestellt sind. Es ist Sonntag, neun Uhr. Keine Schüler, keine Lehrer; und doch herrscht reges Treiben in dem großen Gebäude. Die evangelikal freikirchliche Gemeinde von Mistelbach feiert hier Gottesdienst. "Evangelikal" steht für "dem Evangelium verpflichtet". Für die Gemeinde ist die Bibel einzige Glaubensgrundlage und absolute Wahrheit. "Freikirche" steht für die Unabhängigkeit von Staat und institutionalisierten Kirchen.

Ein provisorisch befestigtes Schild weist den Weg zum Seiteneingang. Wieder der Fisch, diesmal mit einem Mistelzweig im Maul: Der Fisch ist ein altes christliches Erkennungszeichen. Die Mistel deutet auf den Standort der Gemeinde, Mistelbach, hin. Nach dem Betreten des Neubaus weist ein weiteres Schild den verlassenen Gang entlang. Musik kommt entgegen, "Still haven't found what I'm looking for" von U2. Der Gang mündet in eine Art Aula, wo mehrere Reihen von Holzsesseln aufgestellt sind. In der Mitte liegt ein rotes Tischtuch auf einem Rednerpult. Darauf eine ledergebundene Bibel neben einer brennenden Kerze. Neben dem Pult probt die Band, immer noch U2. Sechs junge Leute. Zwei Gitarren, Keyboard, Schlagzeug, Kontrabass und Vocals.

U2 - für Alt und Jung

Der junge Mann am Kontrabass heißt Christoph. Er ist 22 Jahre alt und studiert Architektur an der TU Wien. Seine ganze Familie gehört der evangelikalen Gemeinde an. Christoph ist überzeugt von seinem Glauben, auch wenn im Gespräch mit Freunden zuweilen Konflikte auftreten, und zwar bei den unterschiedlichsten Themen, von Sexualität über Abtreibung bis hin zur Evolutionstheorie.

Die Begrüßung ist sehr freundlich, jeder reicht einem die Hand und stellt sich vor. Langsam füllen sich die Reihen. Etwa 25 Menschen kommen zum Gottesdienst, vom Kind im Kindergartenalter bis zur weißhaarigen Frau. Der Anteil der anwesenden Jugendlichen übersteigt den einer durchschnittlichen katholischen Sonntagsmesse jedoch mit Leichtigkeit.

Nicht alle von ihnen wurden allerdings wie Christoph in die Gemeinde hineingeboren. Einige entdeckten erst durch den Kontakt mit Freunden den evangelikalen Glauben für sich. Evangelikale legen großen Wert auf die Erwachsenentaufe. Jeder Mensch soll selbst über seinen Glauben entscheiden. Dass Christoph in seiner Entscheidung von seinem Umfeld beeinflusst wurde, ist ihm klar. Er glaubt dennoch, dass er sich frei entschieden hat.

Die Band beginnt zu spielen. Per Overhead-Projektor wird der Text an die Wand geworfen: "Alles, was gut und vollkommen ist, kommt von Dir." Alle singen mit, selbst die Alten … Die letzte Saite des Kontrabasses hört auf zu schwingen und ein Mann um die 50 geht nach vorn zum Rednerpult. Der Gemeindeleiter spricht vollkommen frei, er dankt Gott für die vergangene Woche und für den bevorstehenden Gottesdienst.

Fertige Gebete, die von einem Priester vorgelesen werden, gibt es hier nicht. Einerseits sind die Worte damit immer ehrlich gemeint, andererseits wirken sie bisweilen recht unbeholfen.

Bevor die Band wieder zu spielen beginnt, ergreift der junge Mann am Keyboard das Wort. ",Voll Ehrfurcht stehen wir vor dir, und beten dich an', heißt es in dem Text. Und das will ich jetzt auch wirklich tun, weil er mein Herr ist", sagt er mit geschlossenen Augen und schlägt den ersten Ton an. Wieder singen alle mit.

Anschließend fordert der Gemeindeleiter zum Gebet auf. Die erste Wortmeldung lässt nicht lange auf sich warten, drei weitere folgen. Die Redner sprechen leise, aber mit ungeheurer Überzeugung ihre Gebete. Die anderen senken abermals andächtig die Köpfe. Sie danken Gott für das Paradies, in dem sie leben dürfen, und die Bibel, die ihnen in Zeiten des Zweifels weiterhilft.

Dieses Paradies birgt für Christoph in Diskussionen mit Andersgläubigen das größte Konfliktpotenzial. Besonders problematisch: Die Evolutionstheorie. Christoph ist überzeugt davon, dass Gott die Welt direkt erschaffen hat. Punkt. Mit der Evolutionstheorie kann er das nicht vereinbaren, zumindest nicht mit der "großen Evolution", wie er sie nennt, der zufälligen Entstehung neuer Arten durch Mutationen. Dass sich Arten jedoch per "kleiner Evolution" weiterentwickeln, kann er sich schon vorstellen. Das würde auch mit der Geschichte von der Arche Noah zusammenpassen, meint er. Wenn es früher nämlich einige Grundformen von Lebewesen gegeben habe, die sich dann durch "kleine Evolution" zur heutigen Vielfalt weiterentwickelten, dann lässt sich auch erklären, wie Noah ein Paar von jedem dieser Urtypen in seiner Arche unterbringen konnte. Erklärungen wie diese stehen im Gespräch mit Evangelikalen an der Tagesordnung.

Große und kleine Evolution

Nach einem organisatorischen Intermezzo gibt es eine weitere Gelegenheit zum persönlichen Gebet. Diesmal sind die Anliegen der Gläubigen konkreter. Eine junge Frau um die 20 erzählt beispielsweise von einer Begegnung mit einem schwarzafrikanischen Kolporteur der Straßenzeitung Augustin, der sich entgegen ihrer Vermutung als tief gläubiger Christ erwiesen hätte. Sie betet für diesen Mann, einen Fremden, sie wünscht ihm einen besseren Job. Eine der Gitarristinnen bittet um Hilfe für ihren krebskranken Freund, ein Familienvater für seinen 15-jährigen Sohn, der zum Glauben zurückfinden soll. Zum Abschluss fordert der Gemeindeleiter zum Gebet für diese Anliegen auf, und zwar "laut, kurz und kräftig". Auch für Christoph ist das Gebet Möglichkeit zur persönlichen Kommunikation mit seinem Gott. "Ich habe einen konkreten Gott, mit dem ich über konkrete Dinge reden kann, einfach darüber, was mich bewegt."

Zum Abschluss erhebt sich ein groß gewachsener Mann um die 50 mit rotem Haar und Bart und geht nach vorne, um die Predigt zu halten. Sie handelt vom Gebet Jesu am Abend vor seiner Verhaftung. Die Frage "Was betet Jesus eigentlich?" wird in den Raum gestellt, nur um kurz darauf beantwortet zu werden: "Er betet für uns, seine Jünger." Das Gebet aus dem Johannesevangelium wird Wort für Wort auseinandergenommen. "Vor dem Bösen bewahrt" will Jesus seine Jünger wissen. Der oder das Böse, fragt sich der Prediger, um kurze Zeit später zu erklären, dass der Böse, der Satan gemeint sein muss. Und als Jesus um Einheit seiner Jünger betet, sei das natürlich keine ökumenische Ansage, sondern meine lediglich die Einheit jedes Einzelnen mit Gott. "Die (ungläubige) Welt soll merken, dass Gott da ist", endet die Predigt.

Demnächst in der Furche:

Berührungspunkte von Evangelikalen und katholischer bzw. evangelischer Kirche.

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