Bibellesen in Palästina und anderswo

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Wie etwa mit der Geschichte von der Landnahme im Buch Josua umgehen? - "Am liebsten möchte ich diesen Text aus der Bibel herausreißen." Kontextuelle Bibelauslegung einer palästinensischen Christin.

Kontextuelle Theologie ist ein Begriff, der wohl in den letzten Jahren immer häufiger zu hören ist. Es gehört zum "modernen" Vokabular in der Theologie. Doch wer genau hinhört, wird erkennen, dass dieser Begriff oft in bestimmten Zusammenhängen auftaucht - vor allem dann, wenn über Theologien in der Dritten Welt geredet wird, die viele Theologen in Europa, nicht wirklich als Theologie ansehen, oder wenn es um bestimmte theologische Richtungen geht wie die Feministische Theologie, die eher außerhalb der Mainstream-Theologie verfolgt werden.

In vielen Köpfen steckt die Annahme, dass diese Theologien deshalb anders sind, weil sie kontextuell sind. Ein Irrtum! Denn Theologie ist immer kontextuell! Es gibt keine Theologie, die für immer und überall gültig ist, die außerhalb des sozio-politischen Kontextes existieren kann.

Der Unterschied ist daher nicht der, dass die eine Theologie kontextuell ist und die andere nicht, sondern besteht vielmehr darin, dass die eine sich ihrer Kontextualität bewusst ist und sich demnach so definiert, und die andere sich dieser Kontextualität nicht bewusst ist.

Die Anliegen einer kontextuellen Theologie bestehen also darin, die Zusammenhänge zwischen Text und Kontext zu erstellen und somit Theologie stets mit dem Kontext zu verbinden. Diese Verbindung muss immer wieder neu betrachtet werden, weil sich der Kontext stets verändert. Daher ist kontextuelle Theologie ein dynamisch andauernder Prozess, der sehr anstrengend ist und viel Kraft braucht. Und was dabei für die Theologie im Allgemeinen gilt, gilt gleichermaßen für die Auslegung der Bibel.

Lebenswirkliche Theologie

In den letzten 20 Jahren haben sich auch in Palästina Theologen mit kontextueller Theologie beschäftigt. Die Anfänge liegen am Ende der achtziger Jahre, einer Zeit großer politischen Veränderungen und Herausforderungen. Der Grund für diese neue Orientierung war an sich sehr kontextuell. Denn bis dahin war die Mehrheit der angewandten Theologien in Palästina importiert, aus anderen Regionen und Traditionen übernommen. Die Tatsache, dass diese Theologien oftmals fremde und importierte Theologien waren, führte oft zu einer Entfremdung der Christen von ihrem Lebenskontext, ihrer Kultur und ihren Wurzeln.

Gleichzeitig wurden diese Theologien den Fragen der Menschen, die sich aus dem konkreten Leben ergeben haben und die mit den Erfahrungen dieser Menschen zu tun hatten, nicht gerecht. Diese Situation führte dazu, dass einige Theologen sich der Fragen gewidmet haben: Wie ernst nehmen wir die Alltagserfahrungen unserer Mitchristen? Und welche Bedeutung haben diese für unsere Theologie? Man könnte es auch anders formulieren: Was bedeutet es, heute und jetzt Christ in Palästina zu sein? Wie kann unser Glaube uns im konkreten Leben eine Hilfestellung sein?

Rafiq Khoury, einer der Anwälte der kontextuellen Theologie in Palästina, schrieb dazu: "Wir glauben an die Ewigkeit im Gespräch mit der Zeit - dieser unserer Zeit - und daran, dass sie sich darin inkarniert. Wir glauben an den Himmel im Gespräch mit der Erde - dieser unserer Erde - und daran, dass der Himmel die Sorgen und Hoffnung dieser Erde trägt. Und wir glauben, dass die Erde und der Himmel, die Zeit und die Ewigkeit sich mit dem inkarnierten Gott, Jesus von Nazaret, umarmt, um immer wieder neue Formen des Lebens hervorzurufen. Kontextuelle Theologie ist ein Prozess, der unentbehrlich ist."

Ja, wir glauben an den Himmel im Gespräch mit unserer Erde, und daran, dass der Himmel die Sorgen und Hoffnung dieser Erde trägt.

Die Sorgen und die Hoffnungen der Menschen in Palästina sind enorm. Sorgen und Hoffnung, die sehr mit zentralen Themen wie Gerechtigkeit, Widerstand, Land und Verheißungen zu tun haben. Doch der geografische Kontext, in dem die palästinensischen Christen leben, nämlich das "Heilige Land", macht die Auseinandersetzung mit diesen Themen sehr schwierig. Die Nähe zum Text macht die Verbindung zum Kontext nicht nur schwierig, sondern manchmal fast unmöglich. Eine Erfahrung, die Christen woanders in der Welt nicht haben.

Wie liest eine christliche Palästinenserin, ein christlicher Palästinenser die Texte der Bibel? Wie ist es, wenn die Städte, von der die Texte handeln keine fernen, unbekannten Orte, sondern ein Zentrum des täglichen Lebens sind? Was bedeuten die Texte der Landverheißung oder der Landnahme für Menschen, für die es dabei um ihr Land geht? Was bedeuten Texte, die zur Gewalt aufrufen, für Menschen, die täglich Erfahrungen der Gewalt durchmachen? Und welche Hoffnungen und/oder Sorgen entstehen daraus. Und was ist die Aufgabe der Theologie in so einem Zusammenhang?

Umgang mit Gewalt-Texten

Nehmen wir etwa das Buch Josua im Alten Testament, das sich mit der Landnahme beschäftigt. Dort lesen wir: "... Kein Mensch und kein Tier darf am Leben bleiben ..." (Jos 6,17) - Immer, wenn ich diesen Text lese, überkommt mich Wut und ich will am liebsten den Text aus der Bibel herausreißen. Es fällt mir schwer, ihn als Teil meines religiösen Erbe zu akzeptieren und mich dazu zu bekennen. Was ist es für ein Gott, der solch einen Befehl erteilt? Was sind das für Menschen, die solch einem Befehl folgen, ohne dabei ihren Glauben zu verlieren. Mit den Trompeten um Jericho zu gehen und die Mauern zum Einsturz zu bringen ...

Nur selten, wenn überhaupt, fragen sich Menschen und Theologen, was diese Geschichte wohl für die, die innerhalb der Mauern Jerichos lebten, bedeutet. Nur selten wagen sie, das Bild Gottes in diesem Text zu hinterfragen. Als christliche Palästinenserin habe ich mit viel Mühe gelernt, diesen Text kritisch zu betrachten, ohne ihn aus der Bibel herauszureißen. Dabei geht es mir nicht darum, den Text zu vereinfachen - etwa durch archäologische Erkenntnisse, nach denen der Text nicht als historischer Tatsachenbericht zu verstehen ist: Es geht nicht allein um den Text, sondern um seine Wirkungsgeschichte im Leben. Vielmehr geht es mir darum, einen Perspektivenwechsel zu versuchen und die Menschen innerhalb der Mauern beim Handeln Gottes nicht aus dem Blick verlieren.

Gleichzeitig geht es mir darum, die Komplexität des Themas aufrecht zu erhalten, ohne dabei das Bild Gottes im Alten gegen das im Neuen Testament auszuspielen. Mein Anliegen dabei ist bescheiden: sich darüber im Klaren zu sein, dass die Bibel auch Geschichten der Gewalt beinhaltet, die wir nicht verändern können, auch wenn wir es wollten. Vielmehr gilt es, bei der Interpretation und Anwendung dieser Geschichten nicht selbst zur Gewalt und Missachtung anderer Menschen aufzurufen.

Die Autorin, evangelische The login aus Bethlehem, lebt in Wien.

Buchtipp:

GEBOREN ZU BETHLEHEM. Notizen aus einer belagerten Stadt. Von Viola Raheb, Kulturverein AphorismA, Tübingen 2003, 160 Seiten, brosch, e 7,71

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