"Bildung ist mehr als ein Karrierehebel"

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Julian Nida-Rümelin, einer der renommiertesten deutschen Philosophen, im Gespräch mit der FURCHE über fehlende Freiheit an den Unis, den Wert der lehre und die ideale schule.

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Julian Nida-Rümelin, einer der renommiertesten deutschen Philosophen, im Gespräch mit der FURCHE über fehlende Freiheit an den Unis, den Wert der lehre und die ideale schule.

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In welche Richtung sich die Schulund Hochschulbildung entwickelt hat und warum dringend gegengesteuert werden müsste, erklärt der Münchner Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin.

Die Furche: Was genau verstehen Sie unter einer humanen Bildung, die Sie in Ihrem jüngsten Buch "Philosophie einer humanen Bildung" einfordern?

Julian Nida-Rümelin: Mir geht es im Sinne Wilhelm von Humboldts oder Fichtes oder Kants um den Selbstzweck von Bildung. Gerade die Entzwecklichung, die Autonomie der Bildung hat vor zweihundert Jahren eine enorme Wissenschaftsdynamik ausgelöst. Der Streit ist ja uralt: Schon die Sophisten meinten, Bildung sei bloß nötig, um in der Gerichtsverhandlung zu obsiegen, reich zu werden etc. Und Platon oder Sokrates entgegneten, dass es vor allem um Persönlichkeitsentwicklung, eigenständige Urteilskraft, die Sinnhaftigkeit des Tuns geht.

Die Furche: Und was meinen Sie?

Nida-Rümelin Für mich gehört das Handwerkliche, das Ästhetische, das Soziale zu einem angemessenen Bildungsverständnis dazu. Bei Platon beginnt alle Bildung mit Musik, Tanz und Sport. Es müsste an den Schulen die Gesamtheit der Persönlichkeit stärker berücksichtigt werden, auch die Interaktion und Kooperation, die ethische Dimension.

Die Furche: Wie sähe die ideale Schule aus, in die Sie Ihre Kinder schicken würden?

Nida-Rümelin: Jeder Tag würde mit Sport beginnen. Wichtig wäre eine radikale Reduktion der Stoff-Fülle, um dafür mehr in die Tiefe zu gehen, eigenes Erfahren und Denken zu schärfen. Der Rahmen wäre eine Ganztagsschule mit vielfältigen Aktivitäten. Die Fächer sollten zusammenhängen, Praxis mit Theorie verknüpft werden.

Die Furche: Wie ernst nehmen Sie die Pisa-Ergebnisse?

Nida-Rümelin: Wir hatten in den letzten 15 Jahren eine Phase der hektischen Bildungsreformen in Europa, ohne substanziell überzeugende, kulturelle Leitideen zu verfolgen. Die "Testeritis" von Pisa zeigt das. Der Pisa-Test überprüft wichtige Fähigkeiten wie die Leseleistung von Gebrauchstexten oder mathematische Lösungen von Alltagsproblemen. Hoch problematisch ist aber die Identifikation dieser Testergebnisse mit dem Bildungserfolg.

Die Furche: Wo kann eine humane Bildung überall vermittelt werden?

Nida-Rümelin: Bildung in dem umfassenden Verständnis, für das ich plädiere, findet nicht nur in Schulen statt. Sportvereine sind auch deswegen wichtig, weil es um die soziale Praxis geht, angemessen mit Konkurrenz und Kooperation umzugehen. Das ist genauso eine zivilgesellschaftliche Leistung wie der Besuch von Konzerten - und zwar genauso Rockmusik, nicht nur Klassik.

Die Furche: Wenn das nun nicht vom Elternhaus gefördert wird, wäre nicht eine verpflichtende außerschulische Jugendarbeit eine gute Idee?

Nida-Rümelin: Generell finde ich so etwas sehr sinnvoll. Dann könnte man auch außerschulische Bildungsträger stärker miteinbeziehen.

Die Furche: Der Autor des "Kleinen Prinzen", Antoine de Saint-Exupéry, hat gesagt: "Wenn du ein Schiff bauen willst, trommle nicht Menschen zusammen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten Meer."

Nida-Rümelin: Glaube ich auch. Ich bewundere die Pragmatik und Flexibilität der jungen Leute heute. Dennoch dürfen Bildungsinhalte nicht beliebig werden. Wenn Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihren eigenen Weg zu gehen, kreativ zu sein, wenn alles normiert und oberflächlich und beschleunigt wird, ist das fatal für eine Kultur, die ausschließlich von Bildung abhängt.

Die Furche: Bildung wird eben immer mehr den Anforderungen der Wirtschaft mit ihrem Anspruch nach "Employability" angepasst.

Nida-Rümelin: Die Fähigkeit, berufstätig zu sein und davon leben zu können, ist natürlich wichtig, aber Bildung ist nicht nur Mittel zum Zweck bestimmter Berufsfertigkeiten. Persönlichkeits-und Allgemeinbildung liegen im wohlverstandenen Interesse auch der Wirtschaft.

Die Furche: Welche halten Sie für die größten Fehler des Bologna-Prozesses?

Nida-Rümelin: Der zentrale Fehler ist, dass man die verschiedenen Bildungssysteme in Europa über einen Leisten scheren und zwangshomogenisieren wollte. Die Humboldt-orientierten Systeme wurden hochgradig verschult. Und zweitens hat Bologna die Humboldt-Tradition der europäischen Universitäten, also den Fokus auf Wissenschaft und nicht auf Berufsausbildung, durch die Entkoppelung von Forschung und Lehre beschädigt.

Die Furche: Eine gewisse Straffung des Studiums hat angesichts langer Studienzeiten und hoher Abbrecherquoten hierzulande doch auch Vorteile.

Nida-Rümelin: Die Abbrecherquoten sind seit der Einführung modularisierter Studiengänge aber eher gestiegen. Das eigentliche Problem jedoch ist die zunehmende Konformität. Bei Tests in Assessment-Centern kommen teils 37 gleiche Antworten bei 37 Teilnehmenden heraus. Da ist etwas schief gelaufen.

Die Furche: Sie sprechen von einem gegenwärtigen "Akademisierungswahn". In Österreich wird aber gerne über Akademikermangel geklagt.

Nida-Rümelin: Da werden Äpfel mit Birnen verglichen. Das duale System mit Berufsschule und betrieblicher Ausbildung ist eine große Stärke. Großbritannien hat die doppelte Akademikerquote und die doppelte Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland. Durch die vielen Akademiker entsteht ein Verdrängungseffekt: Heute arbeiten viele als Architekten ausgebildete Leute als technische Zeichner. Letztere müssen sich etwas anderes suchen.

Die Furche: Wie würden Sie als Philosophie-Professor reagieren, wenn Ihre Kinder eine Lehre machen würden?

Nida-Rümelin: Damit hätte ich kein Problem. Auch aus einem handwerklichen Beruf kann eine interessante Karriere werden. Ich empfinde das Handwerkliche als Teil eines erfüllten Lebens. Nur Bücher zu lesen und intellektuelle Debatten zu führen wäre ein bisschen wenig. Diese Haltung, dass eine Lehre nichts wert ist, halte ich für hoch gefährlich, weil sie diesen Bereich am Ende kaputt macht.

Die Furche: Ab wann soll die staatliche Bildung beginnen, gerade bei Kindern aus bildungsfernen Familien?

Nida-Rümelin: Die Kindheit außerhalb der staatlichen Einrichtungen stattfinden lassen zu wollen, halte ich für Nostalgie. Es ist eine Generation von jungen Frauen herangewachsen, die fast alle Elternschaft und beruflichen Erfolg verbinden wollen. Das geht nur, wenn die Kinder möglichst bald und möglichst lange in ganztätigen Einrichtungen sind. Deswegen meine ich, dass Kinder unabhängig von ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund in gemeinsamen Einrichtungen gemeinsame Grundlagen schon vor der Schule erwerben sollten, etwa deutsche Sprachkenntnisse.

Julian Nida-Rümelin

Der Philosoph und ehemalige Kulturminister beschäftigte sich zuletzt vor allem mit Bildungsfragen. Er arbeitet gerade an einem Buch zur Krise akademischer und beruflicher Bildung.

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