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Blickpunkt Zukunft

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Dieser Tage beginnt in Wien ein neues Institut seine Tätigkeit: das Institut für Zukunftsfragen, unter der Leitung von Robert Jungk, Ernst Florian Winter und Gerhard Drekonja. Der uneingeweihte Leser mag nun glauben, daß den zahllosen Wiener Instituten nur noch ein weiteres hinzugefügt wurde mit der gleichen bekannten Zielsetzung der Veranstaltung von Vorträgen, Seminaren und Veröffentlichungen. Doch handelt es sich bei dieser Gründung um etwas völlig Neues, dessen Charakter sich aus zwei Fakten erkennen läßt: einerseits aus der Thematik des Instituts und anderseits aus den Persönlichkeiten seines Führungsteams.

Die Krise der heutigen Welt, die Auseinandersetzung zwischen Ost und West in politischer und zwischen Orient und Okzident in geistiger Hinsicht ist heute allgemein bewußt; täglich lesen wir von neuen Spannungen und Vorkommnissen. Doch das vielleicht wesentlichste Geschehen liegt nicht in den Auseinandersetzungen, sondern in dem Gemeinsamen, welches gleichsam aus ihnen, von der Öffentlichkeit unbemerkt, als zarter Keim geboren wird: das Erleben der Einheit der Erde und das Erwachen eines planetarischen Bewußtseins.

Bisher sind dieses Bewußtsein und diese Einheit jedoch nur wirklich im Sinne der Interdependenz aller Teile: jedes Ereignis in einem noch so entfernten Lande zeigt Rückwirkungen auf alle Teile der Erde; man denke nur an den Krieg in Vietnam oder im Kongo und die drohende Auseinandersetzung Zwilchen Indonesien und Malaysia oder, von der positiven Seite, an das ökumenische Konzil und di Papstreise nach Indien mit dem Beginn des ersten echten Gesprächs zwischen den Religionen. Doch schwer ist es, ein Forum zu finden, in dem die Einheit der Weltkultur zur Tatsache werden könnte und der Keim die Möglichkeit zur Ent- • faltung fände. In diesem Punkt liegt nun die mögliche Bedeutung der Wiener Gründung: auf der Vergangenheit, dem Ursprung einer historischen Kultur läßt sich die Menschheitsökumene nicht anstreben; es gibt zu viele selbständige, voneinander unabhängige Kulturkreise; wenn solches versucht wird, so ist es gleich als kultureller Imperialismus gebrandmarkt. Das höchste, was sich aus der geschichtlichen Betrachtung erreichen läßt, ist ein Gespräch und Vergleich zwischen den Kulturen, wie es sich zum Beispiel in der vergleichenden Religionswissenschaft verwirklicht hat.

Die Idee einer Zukunftsgestaltung ist nicht neu: sie liegt allen Utopien zugrunde, vom platonischen Staat und augustinischen Gottesstaat über Thomas Morus bis zum kommunistischen Chiliasmus. Doch bildeten diese Versuche keine echten Zukunftsplanungen: in Wirklichkeit zeichneten die Utopiker ein bereits vollendetes und ausgestaltetes Bild ihrer eigenen Gegenwart, welches als Ganzheit vor ihren Augen stand. Die Utopien bedeuteten somit eine Übertragung der Gegenwartsvorstellung in die Dimension der Zukunft und Außerachtlassung ihrer wesentlichen Merkmale: der Unvor-aussehbarkeit des Werdens und der menschlichen Entscheidungsfreiheit.

Nur eine einzige Kultur hat die Zukunft im echten Sinne einer eigenen Dimension begriffen: das klassische China in seiner grundlegenden Schrift, im Buch der Wandlungen. Um 1250 vor Christus beschrieb der Herzog von Dshou während seiner langjährigen Haft im Gefängnis die Situation einer menschlichen Gesellschaft in Freiheit, Tung Jen, und zeigte in seinem Kommentar die Bedingungen zu deren Verwirklichung auf: wesentlich sei erstens, daß jene Gesellschaft außerhalb und oberhalb aller bestehenden Spannungen und Interessengruppen als etwas gänzlich Neues begründet werde und daß sie die tatsächlichen Aspirationen der Menschen zum Ausdruck brächte: also auf dem gemeinsamen Planen der Zukunft beruhe.

Im Jahre 1930 hielt nun der Übersetzer des Buchs der Wandlungen, Richard Wilhelm, einen damals viel beachteten Vortrag über Tung Jen. Konfuzius habe zu diesem Ideal folgenden Kommentar gegeben: seine Zeit der feudalen Lebensordnung sei für die Errichtung der Gesellschaft in Freiheit ungeeignet; diese werde sich erst dann verwirklichen können, wenn einmal die Menschheit in zwei gegensätzliche Lager gespalten sei: dann aber würde sie, unbemerkt von den Feinden, sich friedlich und, wie es heißt, über das Lachen — also die gemeinsame freudige Zusammenarbeit und das Gespräch — entfalten können, falls es ihr allerdings auch weiter gelänge, sich außerhalb aller Gegensätze und Interessengruppen oder Klans zu halten.

Diese Gegensätze lassen sich in der Dimension der Gegenwart nicht überwinden, wohl aber in der Zukunft; heute sind bereits die Planungen aller Länder in einer Weise einander ähnlich geworden, daß zum Beispiel zwischen den Kybernetikern in Ost und West kaum ein Unterschied der Auffassung mehr besteht; und wo er sich findet, er sich auf falschen Gebrauch, falsches Denken oder auf Überbleibsel rück-

Nicht dem Manager, dem Planer gehört die Zukunft unseres Planeten. Und zwar nicht im Sinne des Utopisten, sondern desjenigen, der die Möglichkeiten der gegebenen Lage erkennt und sie evolutlv, in freier Zusammenarbeit mit anderen, zu entwickeln vermag. Der ideologische Konflikt zwischen Ost und West gehört heute in Wirklichkeit genauso der Vergangenheit zu wie die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten am Höhepunkt des Dreißigjährigen Krieges, da die entscheidenden Impulse zum werdenden Rationalismus im friedlichen Holland entfaltet wurden.

Eine ähnliche Rolle nun wie das Holland des Dreißigjährigen Krieges hat das Österreich der Mitte des 20. Jahrhunderts: in keinem der Blöcke, der politischen, weltanschaulichen, der religiösen oder der kulturellen stößt es auf Ablehnung. Diese Tatsache läßt Wien nach Zeit und Raum für ein Zentrum der Zukunftsfragen, verstanden als Kristallisationspunkt künftiger friedlicher Zusammenarbeit, geradezu prädestiniert erscheinen.

Kongresse und Institute, welche sich mit dem Studium und der Koordination der Planung befassen, gibt es schon eine ganze Reihe. Doch einerseits beschränken sich diese auf lokale Probleme und anderseits sind viele der Planer und Kybernetiker im Sinne des Wortes von Max Weber, „daß Wissenschaft wertfrei zu bleiben hat“, rein auf die Erfassung und Ausarbeitung der technischen und wirtschaftlichen Daten beschränkt, ohne die Frage nach ihrer Bedeutung für den lebendigen Menschen zu stellen — es sei denn, sie halten diese Frage in ihrer Ideologie schon für beantwortet. Doch Werte und Qualitäten sind ebenso der Wandlung unterworfen wie technische und wirtschaftliche Strukturen. Letztere mit den echten Werten in Einklang zu bringen, also sie zu vermenschlichen, ist nun das Hauptziel des Arbeitsteams der Wiener Gründung, welches jeder von ihnen aus seiner besonderen Einstellung und gewählten Aufgabe heraus beurteilt und angehen will.

Der jüngste der drei, Gerhard Drekonja, der eine bereits gesicherte Universitätslaufbahn zurückgestellt hat, um sich ganz den Arbeiten des Instituts widmen zu können, sieht seine Aufgabe in der Schaffung einer umfassenden Bibliographie: was immer auf der Welt in die Zukunft geplant oder als Modell vorgestellt wird, soll im Institut erfaßt werden, so daß es den Interessenten jederzeit greifbar ist; handle es sich um mathematische Forschungen oder aber auch um dichterische Visionen des künftigen Menschen.

Ernst Florion Winter dagegen, heute Professor am Institut für höhere Studien und Leiter der diplomatischen Akademie in Wien, früher als Forscher und Lehrer in Amerika, Indien und China tätig, kennt die Verschiedenheiten und Möglichkeiten der Kulturen aus eigener Anschauung; ihm geht es vor allem darum, die Bedeutung der christlichen Botschaft und Brüderlichkeit in einer künftigen Weltgesellschaft zu bestimmen, von welcher die Christen nur ein Sechstel bilden.

Robert Jungk schließlich ist bekannt durch seine eigenen Zukunftsvisionen: das erste Echo, welches sein Buch „Die Zukunft hat schon begonnen“ gefunden hatte, brachte ihm eine tiefe Enttäuschung; viele Leser bemerkten nur die negativen Auswirkungen der Zukunftsmöglichkeiten und zogen sich fortan pessimistisch in ihre eigene mehr oder weniger behagliche Gegenwart zurück. Aus tiefer Kenntnis der wissenschaftlichen Entwicklung war ihm jedoch klar, daß es für den Menschen kein Zurück mehr geben kann: mit der Beherrschung der Atomenergie ist das Schicksal im Guten wie im Bösen in seine Hand gelegt. Fortan wurde Jungk nicht müde, einerseits die positiven Seiten der Zukunftserwartung immer wieder in Vorträgen und Veröffentlichungen darzustellen, anderseits aber auch auf die ungeheuren Gefahren eines Mißbrauchs dieser Kräfte hinzuweisen — ganz gleich, welchen Angriffen und Mißverständnissen er sich damit aussetzte. Er ist der eigentliche Initiator des Instituts.

Gerhard Drekonja, Ernst Florian Winter und Robert Jungk ergänzen einander zu einem echten Führungsteam: Drekonja schafft das wissenschaftliche Rüstzeug, Winter lenkt die gemeinsamen Anstrengungen im Sinne einer echten christlichen Bemühung, treu den Werten und Zukunftsvisionen der abendländischen Kultur, doch ihrer neuen Rolle im Ganzen der Weltkultur eingedenk; und Robert Jungk zeigt Zusammenhänge und Synthesen der verschiedenen Planungen und Modelle in Ost und West, Orient und Okzident. Als erstes haben sie gemeinsam folgende Veranstaltungen in Aussicht genommen: Rundgespräche über Zukunftsfragen mit Publikumsbeteiligung; speziell österreichische Veranstaltungen mit folgenden Themen: Die Zukunftserwartung des Katholizismus; Die Zukunftshoffnungen der Sozialisten; Entwicklungen der Beruf sstruktur u. a.; und schließlich internationale Veranstaltungen, wo jeweils ein Gastredner mit österreichischen Diskutanten eingeladen wird; unter anderen wird Professor Pierre Bertaux (Lille) ein Gespräch über die Zukunftschancen und Zukunftsaufgaben der Frauen leiten; Prof. Helmut Becker (Berlin) behandelt das Problem der Zukunftsperspektiven der Bildung; Professor Pierre Naville (Paris) spricht über die Automation und die soziale Frage, oder Karl von Dohnanyi (München) über die Zukunftsforschung in aller Welt.

Alle Veranstaltungen werden in Wien in Zusammenarbeit mit entsprechenden wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen durchgeführt, so daß auch für die Stadt das Institut ein brückenschlagender und integrierender Faktor werden könnte, wozu es durch seinen Schwerpunkt in der Dimension der Zukunft wie kein anderes berufen erscheint.

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